Kapitel 32

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Dank meiner Nervosität habe ich nicht bemerkt, dass Gael und ihr Vater wieder mit ihrer Mutter vereint sind. Erst als Edmund mir auf die Schulter tippt und lächelnd auf die vereinte Familie deutet, bemerke ich es. Sofort denke ich daran, ob es bei meiner Familie auch so ein freudiges Willkommen geben würde. Meine Augen suchen in den ein dutzend Booten nach meinem Vater, doch ich finde ihn nirgends. Während ich Ausschau halte, ziehen wir immer mehr Opfer an Bort.

Aus dem Augenwinkel sehe ich am Schluss der Bootskolonne ein Boot, das fast nur mit Männern befüllt ist. Von weitem kann ich es nicht richtig erkennen, aber ich bin mir sicher, dass sie die britische Marineuniform tragen. Fast hätte ich die erwachsene Frau stehen gelassen, der ich gerade aufs Schiff half, aber reiße mich doch noch zusammen. 

,,Brauchen sie eine Decke?", biete ich ihr freundlich an, da sie etwas durchgefroren wirkt. Ein kleiner Junge, vielleicht zwei Jahre alt, liegt in ihren Armen. 

,,Nein, aber könnten sie bitte meinen Sohn eine Decke umlegen? Ich habe Angst, er könnte krank werden.", antwortet sie besorgt.  

,,Sie sollten sich etwas zu Essen holen. Dort hinten steht ein Minotaur, der Essen verteilt. Ich kümmere mich derweil um ihren Sohn.", biete ich ihr an. Überwältigt nickt die junge Mutter und hat Tränen in den Augen, als sie zu dem Minotaurus geht. Fast schon grinsend, über diesen Satz wickle ich den Sohn sorgfältig in eine Decke ein und nehme ihn auf meinen Arm. 

,,Was grinst du so?", fragt plötzlich Edmund neben mir. Vor lauter Schreck hätte ich den Jungen fast fallen gelassen. Beruhigend legt er eine Hand auf meine Schulter. 

,,Hättest du je gedacht, dass du jemals sagen würdest ,Dort hinten steht ein Minotaur, der Essen verteilt'? Ich auch nicht.", beantworte ich seine Frage grinsend und wende meinen Blick zu dem Jungen, der angefangen hat zu weinen. Tröstend und etwas unbeholfen schaukle ich ihn ein wenige hin und her, wodurch er aufhört zu weinen. 

,,Du wärst eine gute Mutter.", flüstert Edmund plötzlich in mein Ohr. ,,Und eine atemberaubende Ehefrau." Beim Klang seiner Stimme so nah an meinem Ohr fährt mir ein Schauer über den Rücken und ich bekomme Gänsehaut. Als ich merke, was er eigentlich gesagt hat, werde ich rot und drücke das Baby an meine Brust, um meine Verlegenheit zu verstecken. Dann drücke ich Edmund den Jungen in die Hand, woraufhin er mich erschrocken ansieht. 

,,Beweise du mir erst einmal, dass du ein guter Vater sein könntest.", lache ich ironisch und drücke Edmund einen Kuss auf die Wange, als wären wir schon zusammen. Mir fällt auf, dass wir eigentlich noch gar nicht zusammen sind, worauf ich etwas rot werde, als ich mich wieder von ihm entferne. Edmund sieht mich sprachlos an, doch grinst wenige Augenblicke später das kleine Baby an. 

Mit einem Lächeln im Gesicht beobachte ich ihn wie er versucht, das Baby zu beruhigen und muss daran denken, ob wir jemals so eine Familie aufbauen könnten. Total in Gedanken versunken bemerke ich die Person neben uns erst, als sie anfängt zu sprechen. 

,,Ich hoffe ich bin noch nicht Großvater geworden. Bei all meiner Liebe, du bist noch zu jung, meine Liebe.", sagt plötzlich eine Stimme hinter mir. Zum Glück hat Edmund den Jungen, denn jetzt hätte ich ihn mit Sicherheit fallen gelassen. Mit Schwung drehe ich mich um und entdecke einen erwachsenen Mann, Ende 30. Seine Kleidung besteht aus einer blauen britischen Marineuniform, welche jedoch komplett zerfetzt ist. Doch ich achte nicht auf die Kleidung, mein Blick haftet am Gesicht des Mannes. Er ist mir so fremd und doch so vertraut. Dunkelblonde Haare, wie meine. Braune Augen, wie meine. Ich sehe eine männliche Kopie vor mir.

,,Dad?", frage ich und spüre wie meine Stimme versagt. Auch mein Vater hat Tränen in den Augen und kommt langsam auf mich zu. Vollkommen überwältigt sinke ich zu Boden und weine hemmungslos. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie mein Vater sich hinunterkniet und mich in eine verzweifelte Umarmung zieht. Daraufhin weinen wir beide und krallen uns direkt aneinander fest. Seine Arme halten mich so fest, wie er es immer gemacht hat, wenn ich einen Albtraum hatte. Doch ich konnte mich nicht daran erinnern, meinen Vater jemals so weinen zu sehen. Es fühlt sich nicht richtig an, meinen Vater so zerbrechlich zu sehen, aber es ist mir komplett egal.

Nach einigen Minuten löst sich mein Vater vom mir, hält mich aber noch so weit fest, dass wir nicht weit voneinander entfernt sind. Mit einem traurigen Lächeln sieht er mich an, doch seine Augen funkeln wie sonst auch immer, wenn er von etwas erzählt, das ihn begeistert. Eine Hand legt er auf meine Wange und mit der anderen streicht er über meine Haare. Es fühlt sich alles so vertraut an. Als er mich ganz sanft auf die Stirn küsst, weine ich noch mehr, doch es kümmert mich nicht. 

,,Du bist gewachsen. Und wunderschön geworden, Evangeline. Die Frisur gefällt mir.", sagt er leise mit seiner üblichen rauen Stimme. Mit unsicheren Fingern fahre ich mir durch die Haare, doch lächle kurz darauf. 

,,Wie lange war ich weg, um zu verpassen wie du gewachsen bist?", fragt er mit brüchiger Stimme. Zum Ende hin versagt seine Stimme ganz. Ich antworte ihm nicht genau. Die Tatsache, dass er fünf Jahre meines Lebens verpasst hat, würde ihn innerlich zerbrechen. 

,,Zu lange.", antworte ich ihm flüsternd. Mein Vater nickt wissend, doch harkt nicht nach. Erst jetzt löst sich sein Blick von mir und wandert über das Schiff hinweg. 

,,Bin ich in Wirklichkeit gestorben oder womit habe ich es verdient, an einem so schönen Ort zu sein?", fragt er staunend und erhebt sich. Während er sprachlos über das weite Meer blickt, haftet mein Blick an ihm. Sein Gang hat sich nicht geändert. Er bewegt sich noch immer so elegant und bescheiden wie zuvor. Seine kräftigen Arme verschränkt er vor seiner Brust, als er anfängt zu lächeln. 

,,Du bist in Narnia.", antworte ich ihm. Mein Vater zieht eine Augenbraue hoch und fast wäre ich schon wieder in Tränen ausgebrochen. Mit einem wissbegierigen Blick beugt er sich zu mir. 

,,Wo liegt das? Eher im Süden Europas? Oder im Norden? Ach warte, sind wir in Asien?", fragt er schnell und wiegt wie ein kleiner Junge hinterher, der fragt, welche Eissorte am besten schmeckt. Diese typische Art meines Vaters bringt mich zum Lächeln.

,,Wir sind nicht mehr in unserer Welt, Vater.", antworte ich ihm lächelnd, worauf er mich wieder neugierig ansieht. 

,,Wir sind in einer anderen Welt. Sie wird von bezaubernden Wesen bewohnt.", erzähle ich. Als ich meinem Vater ansehe, dass er mir glaubt, erzähle ich ihm alles, was ich über Narnia weiß.

Dieses Mal bin ich es, die ihm Geschichten erzählt.

Lost Souls/Edmund PevensieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt