Sieg der Vernunft

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Marie hatte sich ins Kirchturmzimmer verkrochen. Sie wollte jetzt keinen sehen.
Sie wusste selbst, wie kindisch das eigentlich war. Aber sie brauchte kurz ein paar Minuten für sich. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sie so verzweifelt und verheult sah. Schon gar nicht Paddy. Sie setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die kalte Steinmauer und sah sich um. Dieses Zimmer weckte sehr alte Erinnerungen. Als Kind hatte sie hier oft die Kinderkirche besucht und als sie älter war, gab es hier oben des Öfteren Kinoabende oder Ähnliches. Sie hatte einige schöne Stunden verlebt.
Irgendwie beruhigte es sie, hier oben zu sitzen und in Erinnerungen zu schwelgen.
Sie wischte sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht und wollte gerade aufstehen, um sich wieder unter die Leute zu mischen, da klopfte es.
Marie erschrak. Wer konnte das sein? Eigentlich wusste nur Sandra, dass sie hier sein konnte.
Wahrscheinlich wollte sie nur mal sehn, wie lange sie noch brauchen würde, um sich zu beruhigen. Der erste Schreck war vergessen und im Kopf legte sich Marie schon eine Entschuldigung für ihren Ausraster zurecht und freute sich schon auf eine feste Umarmung mit ihrer Freundin.
„Komm rein!" rief Marie.
Die Türe öffnete sich und Marie stand auf, um sich bei Sandra zu entschuldigen.
Umso mehr war ihr der Schreck ins Gesicht geschrieben, als sie erkannte, wer da zur Türe hereinkam. „Hier steckst du also", sagte Paddy mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Oh nein, dachte Marie. Das kommt irgendwie nicht so gut, wenn man sich während der Arbeit verkriecht. Hoffentlich ist er nicht sehr verärgert. Andererseits sah er nicht sauer aus. Im Gegenteil. Er lächelte unentwegt. Überhaupt sah er super aus. Er hatte sich umgezogen und ein männlicher Deogeruch strömte ihr entgegen.
Marie sah verlegen zu Boden.
„Sorry, ich brauchte kurz ein wenig Ruhe. Ich wollte gerade runterkommen und weiterarbeiten!" entschuldigte sie sich.
Paddy sah sie verständnisvoll an. „Das ist schon in Ordnung. Ich kann das voll und ganz verstehen. Immerhin war es das erste Konzert, welches du mitorganisiert hast und dann auch noch unter den Umständen!" Marie sah ihn fragend an. Was meinte er denn damit?
Paddy deutete auf ihre Nase und sah sie mitfühlend an.
„Ach das", sagte Marie. Die Nase hatte sie schon wieder ganz vergessen.
„Das ist halb so schlimm! Mir geht's doch gut!"
Paddy nahm sie sanft bei den Schultern und sagte: „Es tut mir sehr leid, dass du wegen mir geschlagen wurdest, ehrlich. Manche Fans drehen echt durch und verstehen scheinbar nicht, was ich eigentlich rüberbringen will!"
Marie befreite sich sanft von seinem Griff. „Es geht mir wirklich gut", betonte sie noch einmal.
„und jetzt komm, es gibt noch genug zu tun!" Marie öffnete die Tür, um die Wendeltreppe wieder hinunter zu steigen.
Aber Paddy zog sie sanft zurück.
„Warte, lass uns doch noch etwas hierbleiben. Ich könnte auch ein wenig Ruhe gebrauchen."
Marie sah ihn überrascht und etwas unentschlossen an.
„Ausserdem habe ich noch was für dich", fügte er hinzu und wedelte mit einer Aktenmappe in seiner Hand.
Als er sah, wie unentschlossen Marie war, zog er sie einfach wieder ins Zimmer und schloss die Tür. Marie wusste gar nicht wie ihr geschah. Langsam hob sie ihren Blick und sah ihn unsicher an. Sie wusste einfach nicht was das sollte. Was wollte er denn nur von ihr. Warum quälte er sie so? Zuerst meldete er sich ewig nicht, dann war er total reserviert und jetzt suchte er plötzlich ihre Nähe? Sie verstand das einfach nicht!
Noch einmal versuchte Marie der Situation zu entfliehen.
„Ich muss wirklich noch sehr viel aufräumen und muss bei den Pfadfindern nach dem Rechten sehen." Mit diesen Worten wollte sie erneut die Türe öffnen. Aber Paddy hinderte sie auch diesmal daran, den Raum zu verlassen.
„Verdammt, Marie!" schimpfte er. „Jetzt sei doch nicht immer so korrekt und pflichtbewusst!"
Marie sah ihn erschrocken an. Das war das erste Mal, dass er sie so anfuhr!
Als Paddy ihren verblüfften Blick sah, ruderte er etwas zurück.
„Sorry, Marie. Das war nicht so gemeint! Ich bin nach einem Auftritt immer etwas aufgedreht. Aber du brauchst dir wirklich keine Gedanken machen. Sandra und Jessie haben schon fast alles gemacht. Du brauchst nachher nur noch kontrollieren, ob sie alles richtig eingeräumt haben. Ausserdem ist Marvin auch noch da.
„Na gut", stimmte Marie zu.
Paddy lächelte zufrieden. Dann setzte er sich auf den Boden und gab ihr zu verstehen, dass sie sich neben ihn setzen sollte.
Zögernd setzte sie sich neben ihn. Eine Weile saßen sie so schweigend nebeneinander, an die kalte Steinmauer gelehnt.
Dann brach Marie das Schweigen.
„Das war wirklich ein gelungener Abend", stellte sie fest.
„Du hast echt ganz schön eingeheizt. Ich wusste gar nicht, dass du das alleine auch so gut kannst", stichelte Marie. Paddy sah gespielt beleidigt zu ihr rüber.
„Hey", erwiderte er. „Ich werde nicht umsonst als der Entertainer meiner Familie bezeichnet!" „Stimmt, du konntest schon immer Partystimmung verbreiten!"
Stimmte ihm Marie zu und ein Lächeln überzog ihr Gesicht, als sie an die guten, alten Zeiten dachte. Es folgte wieder ein kurzes Schweigen, in dem beide ihren Gedanken nachhingen.
Und wieder war es Marie, die das Schweigen brach.
„Woher wusstest du eigentlich, wo ich bin?" wollte sie wissen.
„Sandra hat gemeint, es könnte gut sein, dass du hier bist!" erklärte Paddy.
„Sie scheint dich wirklich gut zu kennen!"
„Oh ja", lächelte Marie. „Manchmal etwas zu gut!"
„Also ich finde das gut", meinte Paddy lächelnd. Sonst hätte ich dich hier oben sicher nie gefunden!" „Das war der Plan!" grinste Marie.
„Dann hättest du aber das hier auch nicht bekommen", grinste Paddy zurück und wedelte erneut mit der Aktenmappe, die er neben sich gelegt hatte.
„Ok, dann zeig mal her", sagte Marie. „Das muss ja was ganz Besonderes sein!"
„Wie man's nimmt", erwiderte Paddy und setzte sich bequemer hin. Dann legte er die Mappe vor sich auf den Boden und öffnete sie geheimnisvoll.Marie erkannte auf den ersten Blick, was es war.
Ihre Songs! Die hatte sie ja völlig vergessen!
In Maries Magengegend begann es zu kribbeln. Sie war nervös. Was würde Paddy wohl dazu sagen? Welche Tipps hatte er für sie? Sogleich fühlte sie sich in die Schule zurückversetzt. In den Moment, in dem man eine Klassenarbeit zurückbekam und nicht einschätzen konnte, ob sie gut oder schlecht ausgefallen war. Eine Mischung aus Vorfreude und Angst.
„Sorry, dass es so lange gedauert hat", entschuldigte sich Paddy.
„Hatte ein bisschen Zeitmangel!" grinste er.
Aber Marie winkte ab. Es freute sie, dass er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, sie zu bearbeiten. Paddy holte das erste Blatt heraus.
Dann sah er sie an und meinte: „Also, bevor ich dir jetzt meine Änderungsvorschläge zeige, muss ich dir sagen, dass ich wirklich überrascht war. Die Songs sind richtig gut für einen Anfänger. Also, egal, was ich jetzt verändert habe. Das heißt nicht, dass du es schlecht gemacht hast. Eigentlich ist das auch ein wenig Geschmackssache. Ich kann dir nur sagen, was ich darüber denke und wie ich es machen würde. Aber letztendlich entscheidest du, was du daraus machen willst oder nicht, ok?"
Marie nickte. Sie war überrascht, wie professionell er an die Sache ran gegangen war und wie ernst er das nahm. Schließlich hatte sie die Songs ja nur für sich geschrieben und wollte eigentlich nur ein paar Tipps von einem, der in ihren Augen zu den besten Komponisten und Textern der Musikszene gehörte.
„Ja klar, aber deshalb habe ich sie dir ja gezeigt, damit du mir sagen kannst was ich besser machen kann. Ich war selber nicht hundertprozentig zufrieden. Aber ich habe einfach zu wenig Ahnung und Erfahrung, um zu wissen, wie ich es so hinbekomme, dass ich damit zufrieden bin und das hat mich echt gewurmt."
Paddy lächelte. Er konnte sie zu gut verstehen. Auch er war erst dann zufrieden mit einem Song, einer CD oder einem Projekt, wenn er hundertprozentig davon überzeugt war.
„Glaub mir, das liegt nicht daran, dass du wenig Erfahrung hast oder keine Ahnung. Was glaubst du, wie oft wir uns gegenseitig unterstützt haben beim Songwriting.
Ich glaube, man ist irgendwann einfach zu tief drin in seinem eigenen Song, dass man ihn gar nicht mehr objektiv betrachten kann. Da ist es dann echt hilfreich jemanden hinzu zu holen, der sich ganz unvoreingenommen damit auseinandersetzt. Oft sind es nur Kleinigkeiten, die einem selbst hätten einfallen können. Aber man ist einfach zu blockiert in diesem Moment!" erklärte Paddy. Dann fügte er noch hinzu: „ Und sag bitte nie wieder, dass du keine Ahnung hast. Du hast großartiges Talent! Bitte lass dir nie etwas Anderes erzählen, ok?"
Marie fühlte sich geschmeichelt. So etwas aus Paddys Mund zu hören, war schon etwas Besonderes. Obwohl sie wusste, dass er mit dem großartigen Talent schon ein wenig übertrieben hatte.
Paddy legte das Blatt, das er immer noch in der Hand hielt so auf den Boden, dass sie beide einsehen konnten. Marie war überrascht, dass seine Arbeit nicht sehr viel anders aussah, als ihre. Auch er hatte den Text per Hand geschrieben und immer wieder etwas dazu geschmiert oder durchgestrichen.
Als Paddy sah, wie Marie das Blatt Papier musterte, versuchte er sogleich, sich zu rechtfertigen: „ Ja, so sieht das bei mir immer aus, wenn ich komponiere. Ich hoffe, das Geschmiere stört dich nicht. So schön getippt, wie du sie mir geschickt hast, kann ich daran nicht arbeiten. Wenn wir fertig sind, dann schreibe ich es noch einmal schön auf. Aber so lange ich an etwas arbeite, sieht das bei mir immer so aus!"
Marie lachte und erwiderte: „Glaubst du etwa, ich tippe meine Songs immer so schön ab? Das hab ich ja nur für dich so ordentlich gemacht. Genau so sehen meine Skripte auch immer aus!"
„Dann ist ja gut. Ich dachte schon, du bist immer so ordentlich!" grinste Paddy.
Marie musste laut lachen. „Ich und ordentlich? Du kennst mich wirklich noch nicht!"
„Dann wird es wohl Zeit, dass ich dich besser kennenlerne!" erwiderte Paddy grinsend.
Dann stand er auf und sagte: „So geht das nicht! Ich muss kurz was holen. Schau dir doch schon einmal alles an. Ich bin gleich zurück!" Kurz streifte sein Blick den ihren und sein Lächeln verpasste ihr eine Gänsehaut, dass sie zu frösteln anfing. Dann schloss er die Tür hinter sich.

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