36 Ungelöste dicke Luft (Harper)

1.3K 55 5
                                    


„Hast du all deine Papiere, die für das Taxi, den Flug, deinen Reisepass und Ausweis, vielleicht wollen die beides sehen", ging Mom noch einmal sicher, dass ich alles hatte.

„Ja Mom, die sind alle in einer Mappe im Handgepäck, sicher verstaut."

„Hast du genug Unterwäsche, Sonnencreme und einen Regenschirm, in London soll es oft regnen. Nasenspray, Hustentropfen und Kopfschmerztabletten darfst du auf gar keinen Fall vergessen, stell dir vor, du erkältest dich bei dem Regen und bist krank ganz auf dich allein gestellt."

Manchmal war sie schon etwas überfürsorglich, obwohl ihr Munterinstinkt noch nie derartige Ausmaße angenommen hatte wie heute, allerdings war dies ohnehin ein Ausnahmezustand, schließlich flog nicht oft die eigene Tochter alleine für ein Jahr nach England. Zugegebenermaßen sah ich gerade ihre Übervorsorge als Zeichen dafür, wie sehr sie mich liebte.

„Ich hab dich lieb, Mom", stoppte ich sie in einer weiteren chaotischen Gegenstandsaufzählung und schloss sie in meine Arme. Sofort umgab mich die geborgene Wärme, die einem bloß die Mutter geben konnte. „Ich komme schon klar, mach dir keine Sorgen. Ich bin jetzt groß." Naja groß im übertragenen Sinne.

,Ich will bei Mama bleiben', nörgelte mein inneres Kind.

,Du musst selbstständig werden, dir ein eigenes Leben aufbauen und das musst du ganz allein machen. Sag Tschüss zu Hotel Mama', konterte die reife Person in mir.

Immer noch waren Mom und ich in eine Umarmung verschlungen. Behutsam wischte ich einzelne Tränen aus ihrem Gesicht, selbst wenn meine dadurch ungehindert die Wangen herunterliefen. „Ich will es nicht wahr haben; mein Mäuschen verlässt das Netz, geht für ein Jahr nach Oxford. Ich bin so unheimlich stolz auf dich." Mom war so gemein. Es war nicht möglich, selbstständig und unabhängig zu werden, wenn die Umarmung der Mutter das beruhigendste Gefühl überhaupt war und man sich nur bei ihr geschützt vor dem großen bösen Leben fühlte.

„Ich habe noch etwas gefunden, das du unter allen Umständen mitnehmen musst", schlenderte Cloe aus dem Haus. Sie hatte die Nacht über bei mir geschlafen und war meine moralische Unterstützung beim Einpacken der letzten Dinge. Jede Ecke meines Zimmers hatte sie mit ihrem prüfenden Blick durchforstet, um sicher zu gehen, dass ich nichts vergas.

In der Hand hielt sie ein verschlossenes Reagenzglas, das sie mir freudestrahlend überreichte.

„Die Kristalle von meiner ersten Scienceclubstunde in der neunten Klasse." Fasziniert betrachtete ich die blau schimmernden Mineralien.

Als uns Mr. Hoge damals in der Neunten in die Welt der Naturwissenschaften über den normalen Unterricht hinaus einführte, hatte er in der ersten Stunde einen Experimentierkasten mitgebracht, der normalerweise für Kinder zur Heranführung an Experimente genutzt wurde. Da ich mit solchen Kästen seit meinem fünften Lebensjahr vertraut war, dauerte es nicht lange, bis ich die Lösung für die Herstellung blauer Kristalle fertiggestellt hatte. Die Kristalle hatte ich mir dann als Erinnerungsstück an meinen Premiertag in meinem zweiten Zuhause, dem Scienceclub, aufgehoben.

„Ich kann zwar nicht verstehen, was daran so besonders sein soll, aber ich weiß, dass sie wie eine Art Glücksbringer für dich sind. Und hey, ich bin mir zwar sicher, du schaffst das mit Pavor, allerdings kann ein bisschen imaginäre Unterstützung ja nie schaden." Vor schwierigen Prüfungen oder Wissenschaftswettbewerben hatte ich sie immer in meiner Schultasche verstaut. Vielleicht hatte sich in meinem Unterbewusstsein verankert, dass meine Erfolge stückchenweise daher rührten.

War ich nach dem Schulabschluss nicht zu alt, für einen dieser aber gläubigen Gegenstände? Müsste ich jetzt nicht ohne fremde Hilfe auskommen, selbst ohne die eines Talismans? Nein, nein, ein wenig Glück konnte man immer gebrauchen. Schmunzelnd steckte ich das Reagenzglas in mein Handgepäck.

Im Augenwinkel sah ich ein gelbes Fahrzeug um die Ecke biegen und vor meinem Haus anhalten: Mein Taxi war da.

Cloe trat mit gesenktem Kopf an mich heran. „Dann wird es jetzt wohl Zeit. Vergiss bei dem ganzen Wissenschaftskram nicht, dein Handy zu laden. Und wehe du gewöhnst dir an, eine Teestunde abzuhalten und mich bei deiner Rückkehr dazu zu zwingen", war Cloes Wortwahl für „Ich werde dich vermissen, melde dich und bleib so wie du bist", nach all den Jahren fiel es mir nicht schwer, ihre versteckten Botschaften zu entschlüsseln.

Ich fiel ihr in die Arme und erneut kullerten einzelne Tränen. Ich hätte mir den Abschied nicht so schwer vorgestellt, gerade weil ich mich seit der Trennung von Ethan nach Ablenkung und Flucht vor den Orten mit all diesen schmerzenden Erinnerungen sehnte. Denn Abstand heilte doch Wunden, oder? – Zumindest war das mein einziger Trost. Wenn ich nicht jedes Mal an ihn erinnert wurde, wenn ich mein Zimmer betrat, auf meiner Couch lag oder sich das kleine graue Fellknäul, besser bekannt als Jerry, an meinen Körper schmiegte, ganz zu schweigen, dass ich das Stevenson's bewusst mied, und wenn ich zusätzlich wegen des Studiums keine Zeit hatte, an ihn zu denken oder sich die Gedanken an ihn eher Stück für Stück reduzierten, dann hörte der Schmerz in meiner Brust auf, mich von Innen zu zerreißen. ... Doch wollte ich überhaupt aufgeben ...

Warum schaute ich immer wieder in sämtliche Richtungen oder durchstöberte die Benachrichtigungen auf meinem Handy? Dachte ich wirklich, er würde noch kommen? Mich aufhalten oder gar sagen, dass er auf mich wartete? Geknickt senkte ich den Kopf. „Er wird nicht kommen", stellte ich monoton fest.

Mom und Cloe umarmten mich je von einer Seite, dennoch konnte ich die aufsteigende Tränenflut nicht unterdrücken. London, warum musstest du so weit entfernt sein?

Egal, wie sehr es schmerzte, es gab kein Zurück. Auch wenn der Abschied von Mom, Cloe und endgültig von Ethan noch so schmerzte, war es eventuell doch die richtige Entscheidung, nein, es war richtig.

Ein letztes Mal drückte ich die beiden, so fest es ging, dann atmete ich tief ein und aus, verstaute meine Koffer, stieg ein. Das Auto startete und ich winkte Cloe und Mom, bis wir um die erste Ecke fuhren.

Nachdenklich schaute ich aus dem Fenster. Mein Verstand unterstützte meine Entscheidung, – solch ein Türen öffnendes Angebot lehnte man schließlich nicht ab; ich musste an mich und meine Zukunft denken –, dennoch wurde ich das merkwürdige Bauchgefühl nicht los, das in Frage stellte, ob ich mich tatsächlich richtig entschieden hatte.

Nerd vs. Athlete - Geek vs. Player I : Liebe auf den nicht ganz ersten BlickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt