16 Erdmännchen in ihrem natürlichen Lebensraum (Ethan)

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„Hier das Buch zum Beispiel. Ich weiß nicht, ob du die Serie dazu schon gesehen hast, trotzdem würde ich dir empfehlen, das Buch zu lesen. Darin werden die Intentionen der Selbstmörderin deutlicher und gewissermaßen nachvollziehbarer dargestellt, aber auch was im Inneren des Protagonisten vorgeht, wird detailgetreu beschrieben."

Nerdi war echt zu putzig: Erst hatte sie mich in die furchterregende Bibliothek geschleppt, mir darauf unzählige Bücher über unser Facharbeitsthema in die Hände gedrückt – die nebenbei erwähnt langsam echt schwer wurden –, und jetzt lief sie sämtliche Bücherregale ab, wobei sie mir diverse Bücher vorstellte. „Wenn du mal eine Pause zwischen Fußball, Partys und Mädchenaufreißen findest", war ihre Ausrede dafür gewesen, dass sie mich in dieser verdammten Bibliothek gefangen hielt, und versuchte, mir Bücher zum Lesen ans Herz zu legen.

Pah, als ob ich jemals lesen würde. Noch nie hatte ich ein Buch aus der Schule zu Ende gelesen, geschweige denn dass ich es meistens erst gar nicht gekauft hatte. Und besonders in meiner Freizeit hatte ich alles andere vor, als mir ein Buch zu vorzunehmen.

„Dieser Roman ist auch genial: Es spielt im New York der dreißiger Jahre. Zwei Mädchen kommen aus der Provinz nach New York und wollen die Großstadt erleben. Währenddessen lernen sie auf einer Silvesterparty einen wohlhabenden Mann kennen, der sie in seine Welt einführt. Gleichzeitig bringen sie ihm Fähigkeiten aus ihrer Welt wie das Schnorren bei. Es ist ein amüsantes Aufeinandertreffen von der Highsociety und Normalsterblichen."

Ich nickte bloß. Auch wenn ich mir jedes Mal verkneifen musste loszulachen. Es war einfach zu niedlich, wie Nerdi strahlte, weil sie sich für so etwas Ödes wie Bücher begeistern konnte.

Auf der Party war sie für ihre Verhältnisse locker drauf gewesen: Sie hatte Spaß gehabt, nicht genervt und die nicht-strebrige Seite von ihr heraushängen lassen. Sie hatte sich locker geschlagen, dafür dass Partys für sie Neuland waren. Aber hier, hier war sie ganz sie selbst. Hier befand sie sich inmitten ihrer heißgeliebten, von mir verhassten Bücher. Hier befand sich das Erdmännchen in ihrem natürlichen Lebensraum.

„Ich gebe zu, Geschichte kann ich nicht wirklich etwas abgewinnen, allerdings habe ich dieses Buch verschlungen: Darin geht es um einen Lehrer, der mit seiner Klasse ein Experiment durchführt, um ihnen zu verdeutlichen, wie es passieren konnte, dass zu der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland die Bevölkerung Hitler trotz seiner offensichtlichen verqueren Ansichten als Führer blind folgte und sich kaum jemand gegen ihn auflehnte. Wenig später ist die ganze Schule involviert. Es bildet sich eine regelrechte Diktaturshierarchie, Schüler werden ausgegrenzt, allerdings wird auch das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt. Später muss das Experiment sogar abgebrochen werden, weil es übermäßig ausartet", erklärte sie mir mit dem nächsten Buch in der Hand. Erneut nickte ich und heuchelte geringfügiges Interesse vor.

Sie packte das Buch weg und lenkte ihre Aufmerksamkeit von ihren Büchern zu mir. „Das reicht für heute, ich will deine verbliebene Anzahl von Gehirnzellen nicht zu sehr überlasten. Hunger?" Nur sie schaffte es, beleidigend und höflich in einem Zug zu sein.

„Ja, was schlägst du vor?" Endlich, endlich entkam ich dieser Hölle.

„Stevenson's?", schlug sie vor.

„Stevenson's."

„Setzen wir uns darüber ans Fenster." Ich deutete zum Stammtisch, als wir durch die Eingangstür des Stevenson's schlenderten.

Sie legte eine Hand auf die Brust. „Was, du lädst mich an euren heißbegehrten Tisch ein. Ich fühl mich geehrt." Natürlich musste sie sich auch wieder darüber lustig machen.

Augenverdrehend schlenkte ich mich auf meinen gewohnten Platz, während Nerdi den Platz gegenüber von mir einnahm.

„Hi Ethan und ...", begrüßte mich die herangeeilte Bedienung – hatte immer noch keinen Plan wie sie hieß – und musterte Nerdi dabei mit einem abwertenden Blick.

„Harper. Wir sind bloß geschäftlich hier, naja wegen einer Facharbeit. Keine Sorge, Ethan steht der Frauenwelt weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung, wenn du dir schon Sorgen gemacht haben solltest", fügte Erdmännchen hinzu.

Die Kellnerin tat darauf auf desinteressiert, allerdings verriet sie ihr verräterisches Augenstrahlen: War sie echt eifersüchtig auf Nerdi? Bei jeder anderen hätte ich es verstanden: Bei einem Topmodel, einer Cheerleaderin, selbst wenn es nur eine Vorstadtschönheit wäre, jeder, bloß nicht bei Nerdi.

„Bitte einmal Bacon Burger mit extra vielen Chilli-Cheese-Pommes", bestellte Nerdi. Irritiert blickte ich zu ihr, dann zur Kellnerin: „Das Gleiche."

„So, verrate mir das Geheimnis, was ist so toll an eurem Stammtisch? Bisher verspüre ich noch nicht das außergewöhnliche Flair dieses besonderen Tisches." Sie machte mit ihren Händen solch eine Bewegung, als wolle sie den „Flair" zu sich lenken.

Dass sie das nicht verstand, hätte ich mir ja gleich denken können. „Es geht nicht um diesen Tisch an sich, sondern dass man einen Stammtisch hat, an den sich kein anderer außer man selbst setzt. Ist Teil des Highschooladels, davon verstehst du nichts."

„Da hast du Recht, denn ich lebe in einer Demokratie", konterte sie breit grinsend. Hätte ich mir gleich denken können, sie stimmte nie etwas vollkommen zu, was ich sagte.

Namenunbekannte Bedienung servierte uns die Bürger. Bevor sie wieder verschwand, konnte sie es sich nicht nehmen lassen, mir verführerisch zuzuzwinkern. Vielleicht würde ich ihn nächster Zeit mal wieder Zeit mit ihr verbringen ...

„Ich wette, ich schaffe den Bürger schneller zu essen als du", behauptete Nerdi mit einem herausfordernden Blick.

Alles klar, das winzige, schmächtige Erdmännchen konnte die gefräßige Hyäne im Wettfuttern übertrumpfen ... Siegesbewusst ging ich auf ihre Herausforderung ein: „Um was wetten wir?"

„Wer gewinnt, darf sich den nächsten Teil unserer Wette ausdenken", beantwortete sie standhaft.

„Abgemacht. Ich freu mich schon, dich auf der Zuschauertribüne mit einem Ethanfanplakat zu sehen", spottete ich auf ihren herausfordernden Blick eingehend.

Krankhaft zwinkernd starrte ich auf Harpers lehren Teller. „Wie ... was ... Hast du überhaupt mal gekaut?"

Das war nicht wahr; ich konnte nicht schon wieder gegen Streberlein verloren haben. Anfangs hatte ich zwar haushoch vorne gelegen, da sie vorerst damit beschäftigt gewesen war, den Bürger in Teile zu zerlegen und nebenbei nach Pommes gegriffen hatte, doch kaum hatte ich mich versehen, war sie beim letzten Happen gewesen und schwups, hatte sie gewonnen.

„Man muss nur die richtige Technik kennen", brüstete sie sich selbstgerecht grinsend. „Da habe ich den glorreichen Fußballcaptain wohl erneut besiegt."

„Was ist meine Strafe?" Wenn ich jedes Mal Geld bekommen würde, wenn ich wegen ihr die Augen verdrehte, könnte ich mir davon bald ein Ticket zum nächsten Champions League Spiel inklusive Flugtickets kaufen.

„Keine Strafe, sondern Teil der Wette", bewusst ließ sie mich zappeln. „... Lese dieses Buch bis Montag. Zufälligerweise ist dies das Buch, das wir derzeit im Buchclub durchsprechen: Die Mitglieder werden sich sicher freuen, das erste Mal einen beliebten Sportler unter ihren Reihen zu haben."

Super, schlimmer als eine Niederlage war die anschließende Demütigung: Debattieren über eine Lektüre inmitten von hässlichen Streberentlein. 

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Quizrunde: Welche Bücher sind gemeint?;D

Apropos Bücher
WARNUNG SCHLEICHWERBUNG😅:
Ich habe noch ein weiteres Buch hochgeladen beziehungsweise erst einmal ein paar Kapitel, bei dem ich schon erheblich weiter bin mit Schreiben und somit regelmäßig jede Woche zwei bis drei Kapitel veröffentlichen kann, vielleicht wollt ihr ja mal vorbeischauen😆.

Nerd vs. Athlete - Geek vs. Player I : Liebe auf den nicht ganz ersten BlickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt