[Teil 1 der Lesenacht]
„Das ist doch nicht normal. Irgendwas Schlimmes muss passiert sein...", murmelte meine Mutter zu Liz in dem Glauben, dass ich es nicht hören würde. Ich seufzte leise und setzte mich aufrecht in den grünen Sessel im Wohnzimmer. Alle anderen im Raum betrachteten dies äußerst argwöhnisch. Ich konnte ihre Sorge verstehen, hatte meine Umwelt gerade eben einfach für einige Minuten vergessen. Liz verhielt sich sehr distanziert und hatte einige Meter Abstand von mir genommen. Es schmerzte zu sehen, was für einen Schaden ich unserer Freundschaft durch mein Fernbleiben zugefügt hatte. Immer war ich so sehr in andere Probleme verstrickt gewesen, dass ich gar nicht daran gedacht hatte, was für Sorgen man sich in der Welt der Menschen um mich machte.
„Seit wann hast du ein Tattoo?", fragte Liz dann und zog eine Augenbraue in die Höhe, sodass ihr Gesichtsausdruck argwöhnisch, gar missbilligend wirkte. Ich schluckte stark und ließ meinen Blick schnell zu meinen Eltern wandern. Auch diese hatten wohl die Engelsflügel auf meinem Rücken bemerkt, denn sie waren nicht erstaunt über die Frage. Was sollte ich nur sagen? Ich hatte das sogenannte Tattoo ja selbst noch nicht betrachtet. Für sie alle musste es wirken, als hätte ich gerade eine Phase des Protests hinter mir, so sehr wie ich mich verändert hatte. Ich befeuchtete mir die Lippen, versuchte händeringend irgendwie eine Ablenkung von mir zu erreichen. Und dann sagte ich den wohl dämlichsten Satz, den ein Mensch in solch einer Situation von sich geben konnte:
„Es ist eine lange Geschichte". Innerlich schlug ich mir selbst gegen die Stirn. „Wir alle haben Zeit", meinte Liz ausdruckslos und auch meine Eltern setzten sich in aller Ruhe auf eines der Sofas neben mir. Was sollte das werden? Bemerkten sie denn nicht, dass ich starke Schwierigkeiten hatte mit der momentanen Situation und der Vergangenheit umzugehen? Wieso ließen sie mir nicht die Zeit, die ich brauchte, um mich wieder einzuleben?
Weil sie mir ebenfalls misstrauten. Weil sie Angst hatten, ich würde wieder einfach so gehen wie zuvor und sie zurücklassen. Weil sie vermutlich das Gefühl hatten mich nicht mehr zu kennen. Und ich konnte es nachvollziehen. Tief im Inneren wusste ich, dass ich eben diese Gedanken und Ängste auch hätte, wenn ich eine von ihnen wäre. Ich sah vorsichtig in das Gesicht meines Vaters, den ich wohl als verständnisvollsten in dieser Runde betrachtete. Er war sonst immer derjenige gewesen, der mich in allem unterstützt hatte. Doch jetzt blieb er still und erwiderte meinen Blick geduldig. Sie alle warteten auf meine Geschichte, darauf, dass ich ihre Fragen der letzten Monate endlich beantworten würde. Ich versuchte mich zu beruhigen, meinen Atem wieder zu verlangsamen und klare Gedanken fassen zu können. Sollte ich nicht einfach die Wahrheit sagen? Aber diese würden sie mir nicht glauben, mich als verrückt und unglaubwürdig abstempeln. Im Gegensatz konnte ich nichts Glaubwürdiges erfinden. Ich wollte das Vertrauen zwischen uns nicht vollständig brechen.
„Was ist es denn das dich so bedrückt? Aylin, wir wissen nicht was du erlebt hast, aber du kannst uns einfach alles anvertrauen. Hab keine Angst.", meldete sich meine Mutter zu Wort, rutschte an den Anfang ihres Polsters und sah mir beruhigend in die Augen. Ich schüttelte den Kopf. „Mama, das ist nicht so einfach. Ich kann gerade nicht darüber reden. Wenn ihr mir vielleicht etwas Zeit geben würdet, dann wäre ich fähig damit umzugehen und es euch mitzuteilen.", meinte ich vorsichtig und sah runter auf meine Hände, die sich immer wieder nervös falteten. Für den Moment würde meine Aussage hoffentlich reichen, sie ruhig stellen bis ich selbst eine Antwort auf viele meiner Fragen hatte. Momentan jedoch wollte ich alles einfach nur vergessen, restlos über die vergangene Zeit hinwegsehen und weiterleben. Ich wusste natürlich, dass ich nicht einfach ignorieren konnte was passiert war, da vieles noch immer fester Bestandteil meines Lebens war. Es war zudem äußerste Vorsicht geboten, was meine Handlungen betraf, jetzt, wo ich keine Beschützer mehr hatte.
Hatte Black als mein Schutzengel nicht trotz allem für meine Gesundheit zu sorgen? Würde man ihn denn nicht bestrafen, wenn er sich dem weigerte? Ich seufzte erneut und bemerkte erst jetzt, dass ich wieder mit fragenden Blicken gemustert wurde. Hatte jemand etwas gesagt? Mir fiel auf, dass ich gar nicht auf eine Antwort gewartet hatte.
„Ich habe gesagt, dass das in Ordnung ist. Aber ich möchte, dass du auf jeden Fall mit jemandem darüber redest, am besten mit einem Therapeuten", begann mein Vater und ich nickte gehorsam, „Außerdem sollten wir darüber sprechen, was du jetzt mit deinem Leben anfängst, nachdem du einfach die Schule abgebrochen hast." Ich horchte auf und runzelte dabei die Stirn. Das war ein gutes Stichwort. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte in letzter Zeit immer nur zwei oder drei Tage voraus gedacht, nie länger, da es unsinnig gewesen wäre. Doch jetzt? Sollte ich das Schuljahr wiederholen? Und dann? „Wie wäre es mit einer Ausbildung? Oder möchtest du weiter in die Schule gehen?", erkundigte meine Mutter sich. Mein Blick wanderte zu Liz, die das Gespräch aufmerksam verfolgte und deren Blick ebenso auf mir ruhte. Was sie sich wohl wünschte? Wollte sie überhaupt, dass ich zurück auf die Schule kam? Bestimmt hatte sie mittlerweile viele andere Freunde und brauchte mich gar nicht. Ich zuckte als Antwort auf die Frage meiner Mutter mit den Schultern.
„Also dann, bis demnächst", verabschiedete sich Liz und ich reagierte darauf nur mit einem schweigsamen Nicken. Wir hatten kein Wort mehr gesprochen und sie schien dies wohl auch nicht mehr für nötig zu halten. Ich konnte mir vorstellen, dass es ihr nicht passte, dass ich meine Geschichte nicht erzählt hatte. Sie blieb noch einmal kurz in der offenen Türe stehen und drehte sich halb zu mir um. „Ich habe mir ständig gewünscht, dass wir wieder zur Zeit davor zurückkehren könnten. Aber ich habe jetzt akzeptiert, dass das nicht passieren wird. Vielleicht solltest du erst einmal wieder in das Leben mit deiner Familie zurückkehren und dich integrieren. Was aus unserer Freundschaft wird, werden wir dann ja sehen", meinte sie. Ich reagierte kaum. Es war hart so etwas zu hören. Erst als das Türschloss klackte, fiel mir ein, was ich hätte sagen sollen. Ich hätte ihr sagen müssen, dass sie genauso zur Familie gehörte wie meine Eltern und dass ich sie brauchte. Ich brauchte sie eigentlich mehr als jeden anderen momentan.
Huhu guys,
hiermit fängt die Lesenacht an und ich habe beschlossen den Radius etwas auszuweiten, d.h. der Abstand zwischen jedem Kapitel erweitert sich jetzt um eine Stunde, da man das hier sonst wohl kaum eine Lesenacht nennen könnte.
Also dann, bis in zwei Stunden, um halb zehn, zu Kapitel 14!
Liebe Grüße, Luna.
DU LIEST GERADE
White -die Auserwählte
FantasyTEIL 2 DER SCHUTZENGELREIHE Nach Lucas Wiederauferstehung weiß niemand, was er sagen soll. Ist er der einzige, der den spektakulären Tod überlebt hat? Und wie soll das überhaupt möglich sein? Was Aylin und ihre Gefährten im zweiten Buch erleben, er...