Kapitel 21

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Als ich die Augen öffnete, fiel mein Blick als erstes auf die geöffnete Zimmertüre vor mir, durch deren Spalt mich Hayes nachdenklich musterte. Ich hatte es gespürt, ich hatte in meinem Traum gespürt, dass mich jemand anstarrte, dass Hayes mich anstarrte. Langsam setzte ich mich auf und zog meine Beine zum Schneidersitz zusammen. Ich erwiderte seinen Blick seelenruhig. Natürlich wusste ich, woran er dachte. Ob wir wohl lebend aus diesem Schlamassel herauskommen würden? Ob danach wohl wieder alles so werden würde, wie zuvor? Wir konnten es nicht wissen, es sei denn, wir machten uns auf den Weg in die Hölle.

„Ich habe das Gefühl, umso mehr Zeit vergeht desto mehr entfernt sich Aylin von uns. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ihre Stimme klingt", meinte ich und versuchte Hayes ein wenig entgegenzukommen, sodass er sich vielleicht endlich öffnen würde. Es ging um Aylin, das war so eindeutig, dass es nicht ausgesprochen werden musste. Und dennoch verstand ich nicht, weshalb er so in seinem Leid versank und sich nicht helfen lassen wollte. Da musste doch noch mehr dahinterstecken. Hayes schien kurz zu überlegen, eine Sekunde des Abwägens, die sich klar auf seinem Gesicht abzeichnete. Er hatte kleine Denkfalten auf der Stirn, die sich wohl aufgrund der Ereignisse der letzten Woche verdreifacht haben mussten. Und er sah müde aus, so wahnsinnig müde und erschöpft. Dennoch stand er dort in meiner Tür, verzweifelt und verletzlich. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Klar, traurig und müde, aber nicht so. Nicht so gebrochen.

„Ich glaube nicht, dass sich Aylin jetzt erst von uns entfernt. Ich frage mich manchmal, ob wir ihr jemals überhaupt wirklich nahe waren. Weißt du, so nahe, dass man genau weiß, was der andere als nächstes tun will, sagen will, ganz ohne dessen Gedanken lesen zu müssen", Hayes hielt kurz inne und fuhr sich mit beiden Händen über sein Gesicht. „Und dann fällt mir jedes Mal aufs Neue ein, dass ihr zwei euch wirklich so nahe seid, dass ich lediglich nebendran stehe und zusehe", gab er mit dunkler, brüchiger Stimme von sich, „Ich weiß nicht, ob ich so weiterleben kann. Ich will alles für sie tun, alles für sie sein. Selbst jetzt, jetzt wo wir nicht mehr wissen, ob wir ihr vertrauen können. Ich will sie in den Arm nehmen, sie an mich drücken und ihr sagen, wie toll sie ist. Ich möchte doch auch nur mein Glück, ist das echt zu viel verlangt?" Ich musste schwer schlucken. Es war eine Sache den kleinen Bruder über Liebe reden zu hören. Über eine Liebe, dessen Ausmaße jetzt erst zu verstehen waren, deren Grenzen immer mehr zu verschwimmen drohten. Aber eine ganz andere Sache war es, dass seine große Liebe auch meine große Liebe war. Und, dass ich der Glückliche war, der seinem Bruder das Herz brechen durfte. Weil sie sich in mich verliebt hatte, weil sie die selben Gefühle teilte wie ich, nicht wie er.

Er stand dort im Rahmen, kleine Tränen tropften von seinem Kinn. Und ich saß hier, zitternd von seinem Liebesgeständnis, verzweifelt über die Absurdität der Situation. Es tat weh. Obwohl ich bis gerade noch geschlafen hatte, war ich jetzt hellwach und schlug die Bettdecke zur Seite, um aufstehen zu können. Vorsichtig ging ich auf Hayes zu. Ich wollte ihm die Möglichkeit geben seinen Abstand zu wahren, falls er das wollte.

„Es tut mir leid, dass es so kommen musste", murmelte ich, während ich ihn brüderlich umarmte. Erst zögerte er, legte aber dann doch seine Arme um mich und drückte sich ein wenig mehr an meinen Körper. Ich hörte erst ein Schluchzen, dann bebte auf einmal sein ganzer Körper und die ersten Tränen begannen zu rollen. Es war eine Erleichterung, dass er es endlich zuließ. Eine Weile verging, ohne, dass jemand etwas sagte. Lediglich Hayes Schluchzer waren zu hören, die mit der Zeit immer weniger verzweifelt klangen und dann irgendwann erstarben. Er hob seinen Kopf, die Augen verquollen und rot und sah mich an. Dankbarkeit lag in seinem Blick. Das und so viel mehr, von Liebe bis zu völliger Verzweiflung. Und er war eindeutig müde, es war ihm fast nicht mehr möglich seine Augenlider aufzuhalten.

„Du solltest schlafen. Wir müssen morgen fit sein", meinte ich vorsichtig und schob ihn in Richtung Schlafzimmer. Er nickte bloß.

Die Vorbereitungen am nächsten Tag verliefen äußerst schweigsam. Dennoch schien die Stimmung weniger angespannt als am Tag zuvor, obwohl heute das Schwierigste noch bevor stand. Der Plan war im Grunde gar nicht so kompliziert, bis vielleicht auf die Tatsache, dass Lucifer auf keinen Fall dahinter kommen durfte. Das Beste wäre, er würde erst gar nicht mitbekommen, wer da in seinem Palast ein und aus ging. Vermutlich eine reine Wunschvorstellung.

Lucas hielt sich total zurück, passte sich dem Schweigen an und hatte lediglich am Anfang mehrmals versucht Blickkontakt mit mir aufzubauen. Wahrscheinlich war er der nervöseste von uns, weil er es mit der Patrouille aufnehmen musste. Sicherlich kannte er die Engel auch noch. Wir hatten besprochen, dass er sie durch Geräusche vom Eingang weglocken sollte und alles erdenkliche tun, um uns die nötigen Minuten zum Betreten der Hölle zu verschaffen.

„Geht's los?", fragte Lucas, bereits mit einer Hand an der Klinke der Haustüre und sah uns erwartungsvoll entgegen. So ungut das Gefühl in meinem Bauch auch war, es hatte sich vor einer Stunde ungefähr auch dieses aufgeregte Kribbeln eingestellt, das ich nicht mehr los wurde. Diese Aktion heute war entscheidend und das wusste jeder von uns. Hayes nickte und auch ich schloss mich an das Haus zu verlassen. Nach einem letzten Blick auf das einsame Gebäude, entfalteten wir unsere Flügel und machten uns auf den Weg.


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White  -die AuserwählteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt