19. Kapitel: Flucht nach vorne

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Lorelei

Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit auf den bewusstlosen Tarik gestarrt und mich gefragt habe, wie ich das tun konnte, öffne ich die Tür zum Käfig mit dem Wechselflügler. Das heißt ich probiere es, sie ist leider abgeschlossen. Erst mit einem meiner Schlüssel, den ich unterbewusst hervorgezogen habe, klappt es. Der Wechselflügler zischt mich an, und macht sich unsichtbar. Ich schließe meine Augen und höre wieder Lydias Stimme, die mir damals alles beigebracht hat. Wer hätte gedacht, dass dieses Mädchen mal auf die dunkle Seite wechseln würde und ausgerechnet für Viggo Grimborn...

„Das wichtigste ist es dem Drachen zu zeigen, dass du keine Gefahr darstellst. Falls du Waffen bei dir trägst, lass sie fallen." Ich habe keine Waffen bei mir, nichts muss fallengelassen werden.
„Kläre deine Gedanken und mache dich kleiner als du bist, du kannst dazu auch ein Lied summen." Mein Unterbewusstsein kramt ein Lied aus meiner Kindheit heraus und ich summe die Melodie mit. Es geht um einen Krieger, der seine Liebe verlassen muss um sich seinem größten Feind zu stellen und nie zurückkommt. Es ist das traurigste und zugleich schönste, was ich je gehört habe. Der Drache schnaubt, es hört sich nicht mehr ganz so feindselig an.
„Wenn der Drache seine Schnauze in deine Hand drückt ist das ein Bund fürs Leben. Es ist das Versprechen, dass ihr euch immer gegenseitig beschützen werdet." Der Drache schnaubt noch einmal. Dann strecke ich langsam die Hand aus und spüre nur Sekunden später etwas warmes und das vertrauteh Gefühl von Leder an meinen Fingern. Ein kurzer Schmerz durchfährt mich. Dieses Gefühl erinnert mich an Nyx, aber Nyx ist tot. Gestorben, an dem Tag, an dem sich mein Schicksal entschied. Ich öffne die Augen und sehe den Wechselflügler einmal genau an. Dann entferne ich den Maulkorb, den er wohl trägt, damit seine Säure die Zelle nicht zerstört. Er senkt den Kopf um mich aufsteigen zu lassen. Es ist eine Sie, wie mir nun auffällt und sie braucht auch einen Namen. „Wie wäre es mit Soraya?" Frage ich sie und sie nickt. Drachen sind intelligente Wesen. Komischerweise trägt sie einen Sattel, auf den ich mich nun setze. Vorsichtig steigt sie über Tarik und dann verlassen wir das Gebäude durch den Ausgang beim Drachenstall ohne irgendjemandem zu begegnen. Als wir draußen sind lege ich meinen Kopf auf Sorayas Hals. Soraya, Sonne - das Gegenstück zu Nyx und ich danke den Göttern dafür, dass sie sie zu mir geschickt haben.

Astrid

Als ich mich wieder dem Bett zuwende bemerke ich, mehr durch Zufall, als durch irgendwas anderes, dass direkt darunter eine Diele komisch absteht. Ich beuge mich hinunter und wische die Staubschicht herunter. Es ist schon fahrlässig auf einem dunklen Schiff, in dem Feuer die einzige Lichtquelle ist so viel Staub liegen zu lassen. Wenn der sich entzündet...

Bevor ich mich verzettle richtet sich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Diele vor mir. Ohne viel Mühe stemme ich sie nach oben und bemerke, dass das Schiff hier einen doppelten Boden hat. Irgendwo zwischen dem Holz und Staub, was auch sonst, hängt etwas weißes, dass das wenige Licht, das nach unten dringt geradezu reflektiert, wie vorher die Augen des Drachen. Ich greife danach und ziehe ein kleines Heft hervor. Es hat keine Aufschrift aber genau das weckt meine Aufmerksamkeit. Mein Gewissen sagt mir, dass ich es meinen Freunden zeigen sollte. Doch meine Neugier verdrängt es mühelos, wann habe ich mich so verändert?
Von meiner Neugier getrieben schlage ich das Heft auf und beginne zu lesen.
Tagebuch von Eva Mai steht dort in schönen geschwungenen Buchstaben. Einen Moment halte ich inne und überlege, ob mir der Name bekannt vorkommt. Doch das tut es nicht. Jetzt ist es auch schon egal, wenn ich die erste Seite aufgeschlagen habe, kann ich auch noch die nächste Doppelseite aufschlagen. Beim Blättern fällt mir außerdem auf, wie dünn und gleichzeitig fest dieses Papier ist. Fischbein wird sicher ausflippen. Ich muss kurz kichern, was ist nur mit mir los? Schnell weise ich mich wieder zurecht und konzentriere mich auf die nächste Seite. Tag 690
Drago und ich waren jetzt mehr als zwei Jahre getrennt. Seit zwei Monaten haben wir uns wieder. Doch erst jetzt wird mir die Kluft, die diese zwei Jahre zwischen uns getrieben haben richtig bewusst. Deshalb habe ich auch beschlossen weiter Tagebuch zu führen, es hilft mir meine Gedanken zu ordnen. Seit seine Familie bei einem Angriff der Drachen ums Leben kam ist Drago für jedes vernünftige Argument taub geworden. So verbittert wie er kann man eigentlich garnicht sein.

Der Rest der Seite ist verwischt. Aber die Geschichte interessiert mich. Wenn Sturmpfeil mich nicht an die Anderen erinnert hätte, hätte ich wahrscheinlich gleich weitergelesen, doch so packe ich das Heft ein und mache mich auf den Weg nach oben mein Drache folgt mir.

Hicks

Einen Moment stehen Fischbein und ich geschockt da, ich meine Blut, mitten auf diesem total unnötigen Teppich! Mein Gehirn beginnt sich sofort zu fragen, wer da gestorben ist und mein Gewissen macht sich Vorwürfe, dass ich den oder diejenige nicht retten konnte. „Das ist eindeutig genug Blut, um sagen zu können, dass der oder diejenige, die oder der es verloren hat wahrscheinlich nicht mehr lebt." Bestätigt Fischbein meine unterbewusste Vermutung. „Ich verstehe aber nicht, wieso dieser Teppich immer noch hier liegt, das Blut ist schon lange eingetrocknet. Wieso sollte jemand sowas liegen lassen? „Als Drohung gegenüber allen, die diesen Raum betreten, sie könnten genauso enden." Murmele ich und wende mich ab. Die Dokument auf dem Tisch scheinen eine willkommene Abwechslung zu dem Tod zu sein, was sich aber als Irrtum herausstellt. Ganz oben liegt ein angefangener Brief, der unten mit Blutspritzer endet. Wo sind wir hier nur gelandet?
Der Brief beginnt mit Lieber Gideon, danach kommen ein paar Zeilen zum Wetter und dem Seegang. Nichts ungewöhnliches, ich entspanne mich etwas. Doch dann geht es weiter. „Ich weiß nicht, wieso ich dir das alles schreibe, denn eigentlich bin ich in Eile. Wir haben Sorge, dass wir aufgeflogen sind. Wenn der Brief bei dir ankommt, sind wir wahrscheinlich bereits tot. Suche uns nicht und sag auch den anderer, dass unseren Schiffen in Zukunft nicht mehr zu trauen ist. Wir sterben in dem Wissen, dass wir das richtige getan haben, als wir Eva beschützten. Ich liebe dich
Cath...

Hier fehlt der Rest." Liest Fischbein vor und schaut mich bestürzt an. „Fragt sich ob das Blut vom Absender oder Empfänger kommt." Murmle ich und könnte mich im selben Moment für meinen Zynismus ohrfeigen. Dann fällt mein Blick auf das Dokument darunter.

Lydia

Dieser Moment kommt mir so unwirklich vor. Ich meine, ich werde ausgerechnet von Viggo Grimborn über meine Herkunft aufgeklärt und dann stellt sich heraus, dass ich die Tochter von einem meiner größten Feine bin. Also wahrscheinlich, mit über 90 Prozent Wahrscheinlichkeit. Ich sinke in mich zusammen. Was soll man dazu noch sagen? „Hey?" Viggo hat sich über den Tisch gebeugt und berührt meine Hand. Ich schaue ihn an und er lächelt. „Das ändert nichts an der Person, die du bist." Ich lache laut auf und kann dabei nicht richtig einschätzen ob es sich dabei um ein echtes oder ein sarkastisches Lachen handelt. „Wer bin ich schon?" Frage ich. Es wahr eigentlich rhetorisch gemeint, ich erwarte keine Antwort von Viggo. Wieso sollte er auch antworten? Wir haben seit Jahren eigentlich nichts mehr zu miteinander zu tun. Was gehen ihn schon meine kleinen oder ziemlich großen Krisen an? Ich habe ihn mit dem allen hier schon viel zu sehr belastet. Zu meiner Verwunderung antwortet Viggo mir trotzdem. „Du bist ein wundervoller Mensch Lydia. Wahrscheinlich besser als alle in dieser Festung." Sagt er mit sanfter Stimme, ich könnte sie fast als liebevoll bezeichnen. „Klar, ein wundervoller Mensch, der seine Freunde in Fönen im Stich gelassen hat und immer abhaut, wenn es schwierig wird!" Gebe ich nun wieder von mir. Nichts anderes habe ich in den letzten Jahren immer wieder gemacht. Ich habe mir mühevoll etwas aufgebaut um es dann bei den kleinsten Problemen wieder zu zerstören. Ich bin ruhelos von einem Ort zum Anderen gezogen, habe nie etwas versprochen, nie etwas zu Ende gebracht, das recht sich jetzt und zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich, es wäre anders.

Wenn man merkt, dass man das Kapitel fast vergessen hätte...
Aber noch ist Mittwoch, bis dann jolannasa

Fünf Jahre - und alles danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt