Ein Brief an dich

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Liebe Mutter, lieber Vater,

ich hoffe, es geht euch gut. Ich kann es kaum glauben, aber schon wieder ist ein ganzer Monat vergangen. Die Zeit vergeht hier so schnell. Doch unsere Fortschritte sind nur langsam. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich euch besuchen kann. Doch wie versprochen werde ich es tun, macht euch darüber keine Sorgen.
Auch wenn ihr Angst habt, dass unser Training zu schwer für uns wäre, es ist wirklich in Ordnung. Ich bin gut und habe kaum Probleme. Und zusammen mit den anderen ist alles halb so schlimm. Ich habe Eren und Armin. Die beiden sind immer für mich da. Und natürlich sind hier auch andere Mädchen. Ich zeige mich meistens gefühllos, doch ich schätze meine Freundschaften sehr.
Da wäre zum Beispiel Sasha. Sie hat einen unglaublich guten Instinkt und sie schafft es jeden glücklich zu machen. Sie ist einfach wundervoll.
Ich denke, von all den anderen Mädchen habe ich am meisten mit ihr zu tun.
Ich möchte euch wirklich gerne wieder sehen. Nächsten Monat kommt wie immer der nächste Brief von mir. Das nächste Lebenszeichen. Passt bis dahin gut auf euch auf.
Ich liebe euch, das wisst ihr ja.
Eure Mikasa

Nachdem die junge Asiatin mit ihrem Namen den Brief beendet hatte, atmete sie schwer auf. Schnell wischte sie sich eine herunterlaufende Träne weg. Sie hasste es zu weinen. Und falls jemand zufällig hereinkommen würde, käme wieder dieses nervige Fragespiel.

Sie faltete das beschriftete Papier schnell zusammen und steckte es in einen Umschlag. Dann stand sie auf und eilte zur Tür. Es war noch früh, so früh, dass kaum jemand wach war. Und so lange hatte sie Zeit ihren Brief unbemerkt abzuschicken.

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Mikasa Ackermann befand sich an einer Stelle der Mauer Rose, bei der niemand aufzufinden war. Eine normale Stelle, die für die Verteidigung ihres Lebensraumes nicht wirklich notwendig war. Die Sonne war am Aufgehen und es befanden sich nur wenige draußen. Die Welt, ihre Welt, war erst am Erwachen. Bald würden die Titanen sich wieder auf dem Weg machen und versuchen in die Mauer einzudringen. Doch selbst für die Titanen war es noch zu früh. Genauso wie Menschen, bevorzugten Titanen in der Nacht zu ruhen. Die junge Soldatin liebte diese Tageszeit am meisten. Sie fühlte sich gut.
Während sie die langsam aufgehende Sonne beobachtete, zog sie ihren geschrieben Brief aus der Hosentasche. Sie hatte sich schon ihre Uniform, die für das Training in wenigen Stunden essenziell war, über gezogen.
Sie starrte abwechselnd das Papier in ihren Händen und die Morgensonne an. Mit gezielter Konzentration setzte sich die Rekrutin an die Kante der Mauer und ließ die Beine baumeln. Ihr war bewusst, dass es gefährlich war ohne 3D-Apparat auf der Mauer zu sein, doch sie wusste ihre Muskeln anzuspannen. Sie war eine von Natur aus talentierte Soldatin. Ein Sturz nach unten würde also nicht so einfach passieren. Mit ihrer rechten Hand stützte sie sich ab und in der linken hielt sie ihren Brief. Den Umschlag hatte sie wieder entfernt.

Geschickt faltete sie das Papier so, dass ein Papierflieger entstand.
Erinnerungen stiegen auf, alte, verblasste Erinnerungen. Damals als ihre Welt noch nicht zerbrochen war, hatte ihr Vater ihr gezeigt, wie man Papierflieger bastelte. Sie hatte es schnell gelernt und unzählige Flieger gebaut. Es hatte ihren Vater immer zum Lachen gebracht, wenn sie einen Weiteren erfolgreich geschafft hatte. Irgendwann wurden aus den Fliegern elegant aussehende Tiere. Sie hatte einen riesigen Spaß am Falten gehabt. Ihr Vater hatte es Origami genannt. Einige Jahre später, als ihre Familie nicht mehr so existierte, wie sie einmal war, hatte sie versucht Eren die Kunst des Origami beizubringen. Dabei hatte sie mit einem leichten Papierflugzeug angefangen.
Der Versuch Eren dafür zu begeistern lief allerdings schief. Er hatte sich am Finger geschnitten und hatte nach diesem Vorfall drei Tage nicht mehr mit ihr geredet. Und nach diesen ignorierreichen Tagen war auch ihr die Lust am Falten vergangen.
Trotzdem hatte sie die beigebrachte Technik von ihrem Vater nie verlernt. Mikasa drehte ihr Briefflugzeug um die eigene Achse. Vielleicht würde ja diesmal das Blatt zu Hause ankommen. Oder dort, wo ihre Eltern auf sie Acht gaben. Sie wusste es nicht. Mit der Hoffnung, dass der Brief tatsächlich von ihren Eltern gelesen wird, schickte sie ihn ab. Das Flugzeug glitt durch die Lüfte, würde von der leichten Brise getragen. Es machte Loopings und flog nach links und rechts. Irgendwann verschwand es hinter der noch aufgehenden Sonne. Ein wunderschöner Anblick mit Verzweiflung dahinter. Als Mikasa ihren Brief aus der Ferne nicht mehr ausmachen konnte, stand sie widerwillig auf. Sie ließ ihren Blick ein letztes Mal durch die wunderschöne Landschaft gleiten. Dann drehte sich das Mädchen um und trat den Rückweg ins Trainingslager an. Sie würde es noch pünktlich schaffen, das wusste sie im Inneren. Und während sie mit einem von Hand gemachten Aufzug nach unten fuhr, flüsterte sie:

"Ich hoffe, mein Brief kommt ohne Umstände zu euch. Ich vermisse euch. Mehr als ihr euch vorstellen könnt."

Da war sie wieder. Diese gottverdammte herunterlaufende Träne.

AoT OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt