Blut

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Diese Nacht war es schlimmer gewesen.

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Wie immer fing es harmlos an.

Klarer, wolkenloser Himmel, vereinzelnde Sonnenstrahlen erwärmten ihr Gesicht. Es hatte etwas Friedvolles an sich. Sie war nicht einmal allein. Vor ihr liefen zwei Soldaten, zu ihrer eigenen Einheit gehörend. Und auch von hinten waren Stimmen zu vernehmen, leises Lachen über banale Dinge. Niemand, nicht mal sie selbst, schien sich Sorgen zu machen.

Dieser Moment, dieser Gedanke zerstörte für gewöhnlich die ungläubige Ruhe, den vorgespielten Frieden mit der Welt.
Diesmal erklang ein Knall, ohrenbetäubend.
Jemand von hinten schrie, das Licht verschwand, sodass nichts mehr zu sehen war, eisige Kälte durchzog ihren Körper an jeder Stelle.

»Mache, dass es aufhört ...«, wimmerte sie verängstigt.

Kaum öffnete sie ihre Augen, befand sie sich in einem Raum. Nicht ein x-beliebiger Raum. Nein, natürlich nicht. Es war ihr eigenes Zimmer. Auch wenn ihr alles vertraut wirkte, lief es ihr kalt den Rücken hinunter.

Es war noch längst nicht vorbei.

Ein metallischer Geruch, erkennbar als roter Farbstoff, befleckte nahezu jeden einzelnen Zentimeter in ihrem Zimmer. Nicht zuletzt ihre eigenen Hände.

Panisch versuchte sie an ihre Tür zu gelangen. Kein Rütteln, kein Schütteln an der Türklinge half ihr.

Machtlosigkeit.

Das war das Gefühl, dass sie dabei verspürte. Sie war machtlos gegenüber ihren Dämonen.

»Lasst mich gehen!«

Schreie. Wütende Schreie nach Hilfe. Hilfe, die nicht auftauchte.
Sie hämmerte an ihre Tür, begann zu flehen:

»Bitte, bitte, bitte, bitte! Lasst mich gehen! Ich will nicht mehr!«

Doch ihre Rufe blieben unerhört. Machtlosigkeit, Verzweiflung und Angst waren grausam. Doch noch grausamer, noch grässlicher war die Hoffnungslosigkeit. Aufgeben bedeutete keine Hoffnung mehr mit sich zu tragen. Gefühle konnten einen stark beeinflussen, kampfunfähig machen, doch der Akt zum Aufgeben musste man selbst abschließen.

Der Mensch beschloss selbst aufzugeben.

Hanji war klar, sobald sie keine Hoffnung mehr hatte, verliere sie. Alles, was ihr je etwas bedeutet hatte.

Deswegen stand sie auf und suchte den Raum nach anderen Fluchtmöglichkeiten ab.
Das Fenster. Das Fenster, das mit blutigen Handabdrücken voll beschmiert war. Da war sie wieder. Diese ekelerregende Angst, die ihr eines ihrer Beine hinaufkroch. Einen tiefen Atemzug und sie schaffte es sie zu verdrängen, jedenfalls für den Moment.

Auf ihrem Schreibtisch lagen keine halb bearbeiteten Blätter mehr, nur ein einziger Gegenstand. Schon von ihrem Standpunkt aus erkannte sie sein Glitzern, etwas völlig unpassendes in dem Raum. Sie kämpfte sich voran, einen Weg überfüllt mit zahlreichen Überwindungen. Jeder Schritt um ein wenig näher zum Objekt zu gelangen.

Dass die Klinge blutvertrocknet war, interessierte sie nicht. Ihre Chance hinauszukommen. Dieses Messer. Es fühlte sich gewohnt an, lag leicht in ihrer Hand trotz des abstoßenden Gefühls. Erst in diesem winzigen Moment des Zögerns fiel es ihr ins Auge. Ein kaum bemerkbares Detail.

L.

Es war Levi's Messer.

Seine Eingravierung, sein einziges Mitbringsel mit in den Aufklärungstrupp. Hanji hatte ihren wohl engst-vertrauten Kameraden oft genug damit gesehen.

Elegante Bewegungen beim Einsatz, brutale Vorgehensweise in der Nutzung an anderen Wesen.
Levi's größter Schatz in ihren Händen. Ein blutrot gefärbtes Messer in ihren frisch roten, komplett mit Blut besudelten Fingern. Sie umgriff es stärker.

Ihr Weg in die Freiheit mithilfe von Levi's Stärke. Vielleicht wurden ihre Schreie um Unterstützung doch erhört? Bei einem weiterem, tiefgehenden Atemzug fokussierte sich ihre Augen auf ihr Ziel.
Das Fenster. Endlich hinauszukommen.
Sie nahm Anlauf, richtete die scharfe Waffe zur glasigen Scheibe und stürmte los. Als sie hindurch brach, mischte sich unter dem Zersplittern des dünnen Glases, des Klirrens der fliegenden Scherben eine Stimme, eine zu gut bekannte Stimme,ein.

»Tu es nicht, Hanji! Hanji, warte!«, schrie Levi aus Leibenskräften.

Es war zu spät. Ihr Geist war in die Realität zurückgekehrt.

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Sofort nach dem schweißgebadeten Aufwachen, dem rasendem Pochen ihres Herzens, sprang sie förmlich aus ihrem Bett. Ohne einen weiteren Gedanken in diesem Zimmer der Gräueltaten, ihr eigenes Zimmer, zu verschwenden, zog sie die Tür auf und begab sich zu einem bestimmten Raum.
Ihr war nicht wohl. Sie musste sich einfach vergewissern. Ihre starken, antrainierten Beine trugen sie fast schon von selbst in sein Zimmer.

»Es muss ihm gut gehen, es MUSS ihm gut gehen.«

Sein Messer, sein sorgevoller Schrei in ihrem Traum hatte sie viel zu sehr verunsichert. Barfuß, ein Tapsen erzeugend, näherte sie sich mit hektischen Schritten seiner Tür auf der anderen Seite des Stockwerks.

Man durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Ohne einen geringsten Funken von Hoffnung war alles verloren. Alles, was ihr je etwas bedeutet hatte.

Sie war da.

»Le-!«, rief sie, egal wer von ihrem Lärm aufwachen würde, als sie die Tür mit einem prompten Schwung auf riss. Flink suchten ihre zwei Augen den gleichgroßen, spärlichen Raum ab.

»-vi.«

Er befand sich nicht hier. Ein blutvertrocknetes Messer lag auf dem Boden. Sein Messer, das L glänzte ihr im rötlichen Schimmer entgegen.

Hanji brach zusammen.
Kein Aufstehen mehr. Keine Hoffnung mehr.

Aufgeben.



AoT OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt