Kapitel 19 | clink

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Es fühlt sich an wie Stunden, die ich bloß an die Wand gelehnt und heulend verbracht habe, bis ich irgendwann jegliche Flüssigkeit aus mir herausgeweint habe. Mir ist schwindelig von all dem Weinen. Ich hätte es wissen sollen. Wie konnte ich nur so dämlich sein? Ich könnte den Kopf gegen die Wand schlagen, wieder und wieder, über meine eigene Dummheit.

Nachdem endgültig keine einzige Träne mehr aus meinen Augen kommt wische ich mein Gesicht mit dem Handrücken trocken und fahre mir noch einmal durch die Haare. Erst jetzt bemerke ich, dass das Licht noch immer an ist und drehe meinen Kopf zur Seite um die Taschenlampe zu sehen, die noch immer an die Wand angelehnt ist. Sie leuchtet deutlich schwächer als zu anfangs.

Erst jetzt sehe ich die Tasche, die nur ein Stück weiter neben ihr steht, und krabbele vorsichtig zu ihr. Mit zittrigen Händen öffne ich den Reißverschluss des Rucksacks und betrachte ihren Inhalt, bei dem es sich um eine Wasserflasche und eine Tüte handelt.

Vorsichtig hole ich die Wasserflasche heraus und begutachte prüfend ihren Inhalt, doch er sieht gut aus, und auch wenn ich bezweifle, dass ich Zayn vertrauen kann, glaube ich, dass es sich bei ihren Inhalt um einzig und allein Wasser handelt. Begierig drehe ich den Deckel auf, setze die Plastikflasche an meine Lippen und lasse das Wasser meinen Hals hinunterlaufen, bis ich genug habe und sie wieder absetze und zudrehe, dann beuge ich mich wieder über den Rucksack und ziehe die Tüte heraus. Ich stelle fest, dass es sich bei ihrem Inhalt um ein Sandwich handelt, so wie er mir bereits einige Male eins gebracht hat und öffne sie, um hungrig von dem Brot abzubeißen. Es schmeckt köstlich.

Nachdem ich aufgegessen habe trinke ich einige weitere große Schlucke, sodass die Flasche fast leer ist, und lehne meinen Kopf wieder gegen die Wand hinter mir an. Ich spüre einen stechenden Schmerz in meiner Brust und ein Teil von mir bereut es, Zayn weggeschickt zu haben, doch ich weiß, dass es das Richtige war. Er hat nur mit mir gespielt, er ist noch immer einer meiner Entführer, dem ich absolut nichts bedeute. Ich muss mir das immer wieder sagen, bevor ich doch noch glaube, dass irgendwas von seinem Worten wahr war.

Je mehr ich an ihn denke, desto stechender wird der Schmerz und ich stöhne gequält auf. Der Plan war eigentlich doch gewesen, dass ich an ihn herankomme, damit er mir hilft hier herauszugekommen, doch stattdessen habe ich ihn viel zu nah an mich herangelassen und ihn mit meinen Gefühlen spielen lassen. Dummes Mädchen.

Ich muss meine Gedanken auf etwas anderes lenken, bevor der Schmerz immer größer und unerträglicher wird. Aber alles, woran ich denken kann, tut ebenso weh. Ob ich meinen Eltern fehle? Sie müssen doch schon längst die Polizei alarmiert haben. Wieso hat man mich noch immer nicht gefunden? Sind ein Clown und sein Komplize tatsächlich cleverer als die Polizei?

Ob Niall mich vermisst, so sehr wie ich ihn vermisse? Er fehlt mir schrecklich, besonders in diesem Augenblick. Doch jetzt wird mir bewusst, dass ich ihn für die letzten Tage beinahe komplett vergessen hatte. Schon wieder. Das schlechte Gewissen macht sich in mir breit. Ich bin ein furchtbarer Mensch. Wahrscheinlich vermisst mich keiner. Das Leben geht auch ohne mich weiter. Vielleicht fehle ich ihnen die ersten Tage, vielleicht tatsächlich sogar noch Wochen, aber spätestens in ein paar Monaten sind sie über meinen Verlust hinweg. Sie leben ihr Leben weiter wie zuvor, mit der Ausnahme, dass ich darin keinen Part mehr einnehme. Aber was macht das schon. Und in ein paar Jahren bin ich nur noch eine dunkle Erinnerung. Das Mädchen, das spurlos verschwand und nie wieder auftauchte. Vielleicht findet man irgendwann meine Leiche, vielleicht werden sie kurz darüber sprechen, was es für eine Schande ist, vielleicht wird man aber nicht mal meine Leiche finden und ich bleibe für immer ein Fragezeichen. Und sie werden einfach ihr Leben weiterführen, als hätte ich nie existiert.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bekomme ich schwere Bleifüße, als ich begreife, wie relativ unbedeutend mein Leben ist. Dass mein Dasein gemessen am Universum und der Zeit eigentlich gar nichts wert ist. Ich bin nur eine in Milliarden, für das Universum ein Nichts. Die Dauer meines Lebens ist ein Nichts, verglichen mit der Zeit, die die Erde schon auf dem Buckel hat. Ein Leben mehr oder weniger, was macht das schon aus? Ich bin nur eines von Milliarden Sandkörnern am Strand, werde ich aufgewirbelt und vom Wind weggetragen fällt es niemanden auf, schließlich gibt es noch weitere Milliarden von mir.

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