Kapitel 20

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Viviens/Gaias POV

"Ich erinnere mich nur grob an das, was war, bevor ich zu den Lehmanns kam. Ich weiß noch, wer Nikolai ist und ich wusste immer, wer du warst. An Mom und Dad kann ich mich aber nicht erinnern", begann ich mit gesenktem Blick.

"Wie genau kamst du zu Hydra?" fragte sie direkt. Ich hob kurz meine Schultern. "Es war eine Art Bestimmung."

"Nikki hat gemeint, dass dein Traumberuf irgendwann 'Auftragskiller' wurde", fing sie an. "Wie kam es dazu?"

"Ich habe immer gewusst, dass ich kein normales Leben will. Ärztin oder Lehrerin wollte ich nicht werden, weil es zu eintönig war. Ich lebte immer im Moment. Das was mich an diesem Beruf am meisten gereizt hat und es immer noch tut, ist der Adrenalinschub, der den Körper währenddessen erfüllt. Ich habe nach Adrenalin gesucht und Hydra gab es mir", antwortete ich und hob meinen Kopf. Natalia musterte mich mit so viel Horror, dass ich mich hätte schämen müssen, doch ich fuhr fort. "Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber es liegt in meinem Blut, nicht normal zu sein. Ich werde nie ein alltägliches Leben führen wollen. Und genau das unterscheidet uns: Ich wollte töten, du musstest."

"Warum bist du nach Berlin gegangen?" erkundigtete sie sich und lehnte sich am Bettende an. Ich grinste schief. "Das hatte einen unschönen Grund. Damals – vor zehn Jahren – habe ich jemanden umgebracht, der bei uns ins Haus eingebrochen ist. Aus Angst, ins Gefängnis zu wandern, bin ich abgehauen. Berlin schien mir am besten: keiner kannte mich und ich hatte mich bereits vorher über Hydra informiert. Du musst wissen, dass ich mich für ein Schulprojekt über die griechische Mythologie informiert habe und dort gehört auch dieses neunköpfige Ungeheuer dazu. Mir wurden mehrere Vorschläge gebracht, bis ich über das Deep Web auf Unterlagen über diese Organisation stieß. Also begab ich mich in die Hauptstadt und suchte nach ihnen. Ich bewarb mich bei einem Tarnunternehmen und wurde Meiers Sekretärin – praktisch mit einem Jahr Wirtschaftsabitur."

"Da hast du Nikki aber etwas anderes erzählt", entgegnete meine Schwester und kniff leicht ihre Augen zusammen. Nickend erwiderte ich den Blick. "Du wolltest die Wahrheit."

"Was ist dann passiert?" Natalias Miene wurde wieder interessiert.

"Als ich die Gelegenheit hatte, habe ich Meier offenbart, warum ich wirklich die Stelle als seine Sekretärin wollte. Er unterzog mich einer Prüfung."

"Was für eine Prüfung", fragte meine Schwester etwas skeptisch und zog ihre Augenbrauen zusammen.

"Er ließ mich entführen. Die Männer verhörten mich stundenlang, doch ich gab nicht nach. Dann tauchte der Director auf und ließ mich Treue zu Hydra schwören. Am nächsten Morgen konnte ich mit der Ausbildung beginnen."

"Der Ausbildung zur Killerin", fügte Natalia an. Ich konnte mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. "Wofür andere Jahre gebraucht haben, dafür habe ich lediglich zehn Monate gebraucht. Ich war schneller, stärker und besser als jeder andere Trainee. So kam es, dass zu meinem neunzehnten Geburtstag die Abschlusszeremonie vollzogen wurde und ich ein vollwertiges Mitglied Hydras wurde." Meine Schwester erhob sich. Ihre Augen wirkten besorgt, ihre Gesichtszüge waren angespannt. "Wie kam es, dass du Auftragskillerin werden wolltest?"

"Sagen wir einfach, ich hatte keine einfache Kindheit. Ich wurde gehänselt, weil ich kleiner war. Auf mir wurde herumgehackt. Irgendwann merkte ich, dass ich gar keine Freunde brauchte. Natürlich werden mir immer gewisse Menschen am Herzen liegen, aber ich habe nie einen Menschen getroffen, bei dem ich sagen würden, dass ich ihm bedingungslos vertraue. Dich habe ich nie kennengelernt", begann ich etwas melancholisch und senkte meinen Blick. "Die Tatsache, nicht dazuzugehören, hat mich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr gestört, also habe ich mein eigenes Ding durchgezogen, unabhängig von der Meinung anderer. Warum sollte ich Mensch zuhören, die mich nie akzeptierten?" Ich legte eine kurz Pause ein und blinzelte die Tränen weg, was Natalia anscheinend überraschte. Sie ließ sich neben mir nieder und ergriff meine Hände. Ich fuhr fort: "Ich bin diesen Menschen dankbar, dass sie mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Ich habe die große, böse Welt bei Zeiten gesehen. In jedem Licht sehe ich jetzt den Schatten, in der Wahrheit erkenne ich die Lügen und wo andere eine blühende Natur sehen, erblicke ich pure Dunkelheit. Wenn man in einem Umfeld aufgewachsen ist, in dem Hass und Vorurteile herrschen, will man sich irgendwann nicht mehr anpassen, sondern die Menschen formen oder umbringen." Mir kullerten unaufhörlich die Tränen die Wange hinab und egal, wie oft ich darüber wischte, um es zu stillen, es half nichts. Meine Schwester nahm mich in den Arm. Ich spürte, wie ihre Hand behutsam über meinen Rücken strich. Während sie mir still beistand, bemerkte ich, dass auch sie nicht an sich halten konnte. "Es tut mir so unfassbar Leid, Gaia."

"Es ist vorbei", sagte ich, nachdem ich mich beruhigt hatte und schniefte. Natalia reichte mir ein Taschentuch, das ich dankbar annahm.

"Ich werde mit Fury reden und dann wird entschieden, was mit dir passiert. Ich meine, du bist immerhin eine fantastische Kämpferin. Er wäre sicher einverstanden", überlegte sie laut und verließ schnell das Zimmer. Mit was einverstanden, wusste ich nicht. Ich würde mich überraschen lassen. Kaum, dass Natalia aus dem Zimmer raus war, trat Barton ein und schloss die Tür. Ich musterte ihn mit erhobenen Brauen. "Was gibts?"

"Wie geht es dir?" fragte er direkt und lief an mir vorbei. Er platzierte sich auf meinem Bett. Ich zuckte mit den Schultern. "Wie schon? Gut . . . Ist deine Wunde eigentlich schon gänzlich verheilt?" Er hob seine Hand. Ich grinste und umfasste seine Hand, um die Narbe genauer zu betrachten. Sein Kiefer spannte sich an, wie auch seine Muskeln. Ich schaute kurz zu ihm runter und bemerkte, wie er meinem Blick standhielt. "Sieht doch akzeptabel aus, Legolas."

"Sag doch bitte einfach Clint, wenn dir Barton zu schwer ist, Gaia", antwortete er schmunzelnd und stand auf. Er war mehr als einen Kopf größer als ich. Das überhebliche Grinsen seinerseits wurde unterbrochen, als ich seinen Finger so verbog, dass er sich krümmte und letztlich auf den Knien wiederfand. Ich brach in schallendes Gelächter aus und ließ los. Er hielt sich kurz den Finger. "Das war nicht nett."

"Nein, stimmt", sagte ich verständnisvoll. "Aber du hättest mal dein Gesicht sehen sollen, Legolas."

"Hör auf, mich so zu nennen", meinte er ernst und trat auf mich zu. Ich hob eine Braue. "Zwing mich doch." Schneller, als ich reagieren konnte, war er nach vorn gehechtet und hatte mich mit seinen Armen umgriffen. Er hielt mich an seinen Körper gepresst, als wäre ich eine Decke. Ich spürte seine Hände an meinem Rücken, sein Gesicht war meine gefährlich nahe, doch davon ließ ich mich nicht ablenken. Ich ließ locker und näherte mich seinen Lippen. An seinem Blick konnte ich erkennen, dass er überfordert war. Kurz bevor sich unsere Gesichter trafen, merkte ich, wie sich die Muskeln lockerten, was ich nutzte, um mich zu befreien. Ich duckte mich unter seinen Armen weg und trat ihm in den Hinter, sodass er mit dem Gesicht voran auf das Bett fiel. Ich prustete los und rollte mich vor Lachen auf dem Boden. Er drehte sich um und versuchte verärgert zu bleiben, doch bei meinem Anblick konnte er nicht anders als ebenfalls zu lachen.

"Zu langsam, Legolas", gab ich unter schmerzendem Bauch zu und hielt ihm meine Hand hin. Er schüttelte schmunzelnd seinen Kopf und half mir auf die Beine. Plötzlich ertönte eine Durchsage über uns: "Miss Romanoff, Sie sollen sich in der Zentrale einfinden. Der Direktor möchte Sie sprechen."

Clint trat nach mir in den Raum. Es herrschte totenstille. Als ich meinen Blick schweifen ließ, fiel mir ein unbekannter Mann auf, der angespannt neben Rogers saß.

"Setzen", befahl Fury monoton. Ich ließ mich neben meiner Schwester und Barton nieder. Der Direktor blickte in die Runde und faltete seine Hände hinter dem Rücken. Er blieb an der Stirnseite des Tisches stehen. "Agent Romanoff bat mich, Sie bei den Avengers aufzunehmen", begann er etwas skeptisch und schaute zu mir. "Ich möchte das nicht entscheiden, deswegen gibt es eine Abstimmung." Ich lehnte mich im Stuhl zurück und verschränkte meine Arme. Fury fuhr fort: "Wer ist für eine Aufnahme und warum?" Natalia erhob sich und sagte: "Sie ist eine hervorragende Kämpferin und damit sehr nützlich." Barton nickte. Auch er stellte sich auf. "Mittlerweile denke ich, dass sie eine zweite Chance verdient hat, obwohl ich damals dagegen war." Dann stand Stark auf. "Sie ist nicht so langweilig." Ich grinste kurz und sah zu Fury, der seine Augen rollte. "Das ist keine ordentliche Begründung, Stark."

"Sie spricht acht Sprachen. Ist das ordentlich genug?" fragte er und setzte einen entnervten Gesichtsausdruck auf. Fury seufzte, was ich als Zustimmung empfand.

Es stand drei zu drei. Rogers war der Meinung, ich sei nicht in der Lage Befehle auszuführen, Wilson konnte mich nicht einschätzen, Hill mochte mich nicht und Fury enthielt sich. Banner schien mit sich selbst zu ringen. Mir war es eigentlich vollkommen egal, was bei der Abstimmung herauskam.

"Ich glaube, dass sie eine zu bändigende Gefahr ist, wie der Hulk", meinte Banner lächelnd und erhob sich. Fury schien diese Antwort nur teils zu befriedigen, aber er nahm die Überstimmung hin. "Dann sind Sie jetzt wohl ein Avenger, Romanova."

The Real WidowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt