Kapitel 22

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Viviens/Gaias POV

Stimmen. Schüsse. Ein ohrenbetäubender Knall. Dann Stille. Meine Augen sind kaum noch offen. Der Rücken tut weh. Als ich versuche mich aufzusetzen, durchzuckt mich ein starkes Pochen im Kopf. Stöhnend lege ich mich zurück. Nachdem der plötzliche Schmerz verklungen ist, rolle ich mich auf den Bauch. Unter Ächzen und Keuchen richte ich mich auf und schaue mich um. Das Gebäude, das vor einigen Minuten noch gestanden hat, ist jetzt ein großer Haufen Schutt und Asche – ich mittendrin. Das Geröllfeld ist übersäht von Staub, der immer noch in der Luft liegt. Ich muss husten und halte meine linke Hand vor Nase und Mund. Ich bewege mich vorwärts, langsam und bedacht. Einzelne Stellen können stärker von der Explosion betroffen sein und einstürzen, sobald ich meinen Fuß auf einen falschen Ort setze. Meine Hände fassen an die Überreste einer Wand. Ich ziehe mich hoch und bleibe erst einmal sitzen. Von hier aus kann ich einen Umkreis von zwanzig Metern überblicken, was zwar wenig ist, aber immerhin besser als nur drei Meter weit sehen zu können. Meine Augen mustern die Umgebung, auf der Suche nach einem Lebenszeichen.

"Hallo?" beginne ich während einer Pause des Reizhustens und stelle mich vorsichtig auf. "Ist jemand da?"

"Gaia?" Ich kann die Stimme nicht hundertprozentig zuordnen, vermute aber, es ist Rogers. Erleichtert atme ich aus und springe von der Wand. "Rogers?"

"Wo bist du?" Bevor ich antworten kann, taucht der Blondschopf hinter einer umgestürzten Säule auf und greift sich ans Ohr. "Ich habe Gaia gefunden."

"Wo sind die anderen?" frage ich überfordert und wische mir die Haare aus dem Gesicht.

"In Sicherheit", sagt er knapp und führt mich durch die Trümmer. "Stark, suchen Sie die Umgebung weiter ab."

"Wer fehlt", erkundige ich mich stutzig und schaue zu ihm auf. Sein Blick ist starr geradeaus gerichtet, er schweigt. Ich bleibe stehen und stütze meine rechte Hand auf der Hüfte. Er bemerkt, dass ich nicht mehr neben ihm laufe und dreht sich um. Ich blicke in sein verdrecktes Gesicht und wiederhole meine Frage. "Antworte!" brülle ich, als er wieder still bleibt.

"Natasha", entgegnet er ruhig und sieht mich emotionslos an – oder versucht es zumindest, denn in seinen Augen spiegelt sich pure Besorgnis wieder.

"Wie lange schon?" Ich verschränke meine Arme und gehe auf ihn zu. "Rogers, ich werde dich das nicht noch einmal fragen."

"Seit der Explosion", erwidert er ruhig und seufzt. "Also seit circa einer Stunde." Fassungslos stampfe ich an ihm vorbei und rufe nach meiner Schwester. Steve ergreift meinen Arm. "Glaubst du, das hätten wir nicht bereits versucht? Stark scannt seitdem die gesamte Umgebung nach einem Lebenszeichen ab. So haben wir dich gefunden."

"Wenn du mir jetzt sagen willst, dass sie wahrscheinlich tot ist, dann halt die Klappe", drohe ich streng und gehe weiter. "Ich will es nicht hören!"

"Gaia, wir nutzen alle verfügbaren Mittel, um sie wiederzufinden", meint er beschwichtigend und legt mir eine Hand auf den Rücken.

Der Quinjet steht mitten auf der Straße, die Laderampe ist geöffnet. Schon von weitem erkenne ich Wilson und Clint, die sich unterhalten, Banner, der sich in eine Decke kuschelt und Stark, der mithilfe eines Headsets seinen Anzug durch die Gegend manövriert. Als Steve seine Hand von meinem Rücken nimmt, breche ich zusammen und spüre, wie meine Wangen von den Tränen überströmt werden. Ich knie weinend auf dem Boden. "Verlass' mich nicht!"

Ich setzte mich schnell auf und sah mich um. Die Feuchte auf meinem Gesicht, insbesondere auf den Wangen, konnte ich deutlich spüren. Seufzend atmete ich aus und spähte zur Tür. Im Halbdunkel erkannte ich, dass Natalia im Rahmen stand und mich besorgt musterte. "Alles in Ordnung?" Sie trat in den Raum. "Alptraum?"

"Wenn man es so nennen will", entgegnete ich und fuhr mir mit der Decke über mein Gesicht. "Habe ich dich geweckt?"

"Nicht wirklich", gab sie ebenfalls seufzend zu und schloss die Zimmertür. Sie ließ sich auf meiner Bettkante nieder. Der Mond, der durch das Fenster hineinschien, erhellte ihre angestrengten Gesichtszüge, die ich besorgt musterte. "Die Dämonen jagen dich noch."

"Sie werden mich immer jagen", sagte Natalia und senkte leicht ihren Kopf. "Ich laufe und laufe, doch am Ende holen sie mich immer ein. Ich dachte damals, dass es reichen würde, mich von Russland zu entfernen."

"Wovon träumst du?" entgegnete ich und stützte meinen Kopf auf den angewinkelten Beinen ab. Natalia schien nicht begeistern von der Frage, trotzdem antwortete sie: "Die Menschen, die ich töte, die Schmerzen, die sie mir zufügten. Mir machen aber weder Schmerzen, noch meine Opfer Angst, sondern, dass die Tatsache, dass ich es als Selbstverständlichkeit sehe zu morden. Ich fühle gar nichts, wenn ich ihnen die Kugel ins Herz oder in den Kopf jage." Die Stimme der gebrochenen Frau strotzte vor Bitterkeit. Im Moment bedauerte ich ihr Leben. Sie hatte sich nicht bewusst und freiwillig für das KGB entschieden – sie wurde gezwungen. Und ich bin schuld.

"Tut mir leid", begann ich leise und sah zu ihr. Meine Schwester hob ihren Blick und schaute verwirrt. "Wovon redest du, Gaia?"

"Wäre ich damals nicht existent gewesen, hätten sie dich nicht genötigt und dir wären die Schmerzen erspart geblieben", sagte ich nachdenklich und überlegte ernsthaft, ob Stark in der Lage wäre eine Zeitmaschine zu bauen . . .

"Du hast keine Schuld an den Dingen, die vor zweiundzwanzig Jahren passiert sind. Es war nicht deine Schuld", beteuerte Natalia und betonte jedes Wort. "Für dich würde ich das immer wieder auf mich nehmen."

"Das ist das Problem", meinte ich mit einem Blick aus dem Fenster. "Du bist diejenige, die sich für alle anderen aufopfert. Immer."

"Ich denke, es ist mein Schicksal", gab Natalia mit geschlossenen Augen zu. Ich wollte etwas erwidern, doch mir kamen keine Worte in den Sinn, die auch nur im Entferntesten wiedergeben konnten, wie sehr ihr Zustand mich berührte. Ich wandte meine Augen vom Mond ab. Meine Hand fasste nach ihrer. "Es wird nie dein Schicksal sein, dich für andere zu opfern." In den Augen meiner Schwester formten sich Tränen, doch sie ließ nicht zu, dass sie ausbrachen. Ich drückte kurz ihre Hand. "Du bist nicht für das Leben anderer zuständig, Natalia."

"Ich bin für dich zuständig", widersprach sie. "Du bist meine kleine Schwester, Gaia. Und ich muss dich beschützen." Ihre Stimme zitterte. Eine einzelne Träne bahnte sich aus dem rechten Auge, als sie mich ansah. Sie war so verletzlich und gebrochen.

"Ich bin für mich selbst verantwortlich", versicherte ich sanft und strich ihr die Träne von der Wange. "Und du für dich."

The Real WidowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt