Natashas POV
Clint, der neben mir saß und entspannt seinen Kaffee schlürfte, zuckte kurz zusammen und holte sein Handy aus der Hosentasche. Als ich auf das Display schaute, erkannte ich den Namen meiner Schwester. "Du schreibst mit Gaia?"
"Ja", sagte er knapp, steckte sein Smartphone weg und erhob sich. "Sie wollte mir Bescheid geben, wenn es erledigt sei."
"Wenn was erledigt sei?" fragte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen und folgte den Mann in den Flur. Clint sah stur geradeaus, als antwortete: "Wenn sie Meier umgebracht habe."
"Das wirst du mir jetzt gefälligst erklären", meinte ich säuerlich und ergriff schnell seinen Arm, sodass er sich zu mir drehen musste. Er seufzte: "Als wir dich gerettet haben, gab es Komplikationen. Wir wurden von Hydra eingekreist, also hat sich deine Schwester geopfert, um Wanda und mich zu retten . . . Du weißt, dass Leon eine – sagen wir – Schwäche für Gaia hat. Sie gab ihm", er schaute kurz auf seine Uhr, "vor genau zehn Stunden das Ja-Wort gegeben und vor einer Minute hat sie ihn-"
"Sie hat ihn geheiratet?" entgegnete ich fassungslos.
"Nur so war es möglich, ihn unschädlich zu machen", begann er beschwichtigend und fügte nach meinem Todesblick hinzu: "Gaias Idee und Entscheidung." Er schaute erneut auf die Uhr. "Ich werde jetzt in das Hotel gehen und den Leichnam des ehemaligen Directors von Hydra entfernen, ohne, dass jemand etwas mitbekommt."
"Deswegen sind wir noch in Deutschland", stellte ich entrüstet fest und ließ seinen Arm los. Clint nickte und setzte seinen Weg in die Eingangshalle fort. "Ich habe mit ihr Kontakt gehalten, um ihr zu helfen."
"Nett", erwiderte ich gedankenverloren und presste die Lippen aufeinander, als ich hinter ihm das Gebäude verließ.
Nach einer zehnminütigen Fahrt ins Hotel, stahl Clint den Generalschlüssel, während ich den Mann an der Rezeption befragte.
"Sie haben ein Zimmer im sechsten Stock. Nummer sechsundsechzig", sagte ich im Fahrstuhl, als sich die Türen mit einem Pling schlossen und wir uns nach oben bewegten. Clint nickte zur Bestätigung und blieb schweigend neben mir stehen, bis sich die Türen öffneten. Wir traten in den Flur und verloren keine Sekunde zur Zimmertür zu kommen und in die Suite zu gehen.
Es herrschte eine Totenstille, als wir hereinkamen. Gaia war unauffindbar. Ich durchsuchte das ganze Zimmer, bis Clint mich zu sich rief: "Nat, das solltest du dir ansehen."
"Was ist los?" fragte ich etwas abwesend, als ich überlegte, wo meine Schwester sein könnte. Als ich das Schlafzimmer betrat, erkannte ich Leons toten Körper auf den Bett liegen. Clint streckte mir den Zettel in seiner Hand entgegen: "Ist für dich." Kaum, dass ich ihn entfaltet hatte, wünschte ich, ich hätte es gelassen. Ich las behutsam die Worte, die Gaia fein säuberlich auf dem Papier niedergeschrieben hatte:
Schwesterherz,
Ich weiß, dass ich viele, viele Fehler gemacht habe und dass ich diese nicht rückgängig machen kann. Aus diesem Grund habe ich mir vorgenommen, mich von dem ganzen Scheiß fern zu halten und eine Zukunft ohne Hydra, ohne Shield und – gezwungenermaßen – auch ohne dich zu beginnen. Sollte ich jemals wieder mit meinem Leben im Einklang sein, lasse ich es dich wissen – natürlich so, dass du mich nicht finden kannst.
Es gibt Menschen, die an so etwas zerbrechen und solche, die es zwar nie verarbeiten, aber damit klarkommen – so wie du. Ich bewundere deine Stärke, dein Verantwortungsbewusstsein und deine Fähigkeit, mit Problemen umzugehen, als wären es nur Kindergartenkonflikte. Ich kann es nicht. Ich habe versucht, mein Privatleben auf die Kette zu bekommen – ich habe es nicht geschafft. Egal, was ich gemacht habe, ich kam nicht damit klar, so viele Menschen umgebracht zu haben, ohne etwas zu fühlen, weder Reue noch Bedauern.
Ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich auf den richtigen Weg gebracht hast, aber meine Zeit ist vorbei. Ich werde mich zurückziehen, um etwas Gutes für meinen Geist zu tun.
Es tut mir Leid, dass ich mich nicht persönlich verabschiedet habe, dass du es so erfahren musst.
Ich hoffe, du verzeihst mir irgendwann . . .
PS: Bitte sei Clint nicht böse, dass er mir geholfen hat, aus der Sache herauszukommen.
In Liebe
Deine Schwester Gaia
Ich spürte, wie eine Träne meine Wange entlang rollte. Sie ist weg. Als ich mir über die Augen wischte und zu meinem besten Freund sah, saß dieser entspannt auf dem Bett und musterte mich schuldbewusst. Ich rang um Worte. Warum? Ich habe endlich wieder einen Sinn im Leben gesehen, seit ich wusste, dass Gaia noch lebt. Ich wollte sie bei mir haben, in Sicherheit . . . Reichen ihr zweiundzwanzig Jahre Trennung denn nicht? "Du", begann ich leise und deutete nach Clint. "Dafür hast du die Pässe gebraucht? Du hast ihr eine neue Identität gegeben?"
"Natasha", meinte er beschwichtigend und erhob sich langsam vom Mobiliar. "Sie wollte das nicht mehr. Ich habe ihr versprochen, für sie da zu sein – so wie ich damals für dich da war. Du warst bereit, für den guten Zweck zu morden. Gaia will nicht mehr morden. Sie will ein normales Leben, ihre Psyche hinbiegen und anfangen, ihre zehnjährige Hydra-Karriere hinter sich zu lassen."
"Das wird nicht funktionieren", sagte ich und knüllte den Zettel zusammen, warf und traf in den Mülleimer hinter Clint. "Ich habe eine Zeit lang gedacht, es wäre das Beste, sich aus allem rauszuhalten. Dann merkte ich, dass ich so geschädigt war, dass ein normales Leben gar nicht mehr in Frage kam. Also habe ich mich meinem Schicksal ergeben."
"Gaia hat noch nicht gemerkt, wie stark sie eigentlich ist", stellte Clint klar und kam auf mich zu. Er strich mir behutsam über den Kopf, während er mich umarmte und fügte hinzu: "Wenn sie soweit ist, kommt sie zurück - irgendwann."
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The Real Widow
FanfictionJede Geschichte hat ihren Anfang und ihr Ende . . . Es heißt, das Leben sei die Leinwand und das Schicksal das Gemälde. Mit unseren Entscheidungen ändern wir lediglich die Farbe, zu mehr sind wir nicht in der Lage. Das Schicksal gibt den Weg vor und...