"Nichts? Gar nichts?", fragte Eduardo gerade ungläubig und leise in sein Telefon. Er seufzte müde.
"Machen Sie weiter. Und wenn Sie auch nur den kleinsten Hinweis finden, und sei es ein winziger Zettel, auf dem eine verschmierte Zahl steht, informieren Sie mich umgehend."
Er legte auf.
Seine Augen waren eingefallen, tiefe Ringe unter ihnen. Die blasse Haut ließ verheißen, dass er nicht mehr so viel aß, sein Haar war matt und nicht gekämmt. In dem riesigen Haus war er seit drei Tagen alleine, seit dem Tag, an dem Ciana in die Schule gehen wollte, der Tag, an dem sie mit Adam weggegangen war.
Als sie sagte, dass sie ihn ganz dolle lieb hätte, sollten eigentlich Alarmglocken klingeln, doch das taten sie nicht.
Und nun war sie verschwunden.
Der Junge war ihm im Prinzip egal.
Aber Ciana.
Seine Tochter.
Sein Fleisch und Blut.
Der Grund, für den er sich ändern wollte.
Nicht für die Menschen in Merridale.
Nicht für seine Ehefrau Valentina.
Nicht für sich.
Für Ciana.
Sie hatte ihn verlassen, das war ihm klar. Es war, als ob ein brennender Schmerz ihn zwang, tief durchzuatmen. Ein Druck breitete sich in seinem Rachen aus, stieg nach oben, seine Augen wurden feucht. Er versuchte, sich zu beruhigen, um nicht gleich loszuflennen.
Und da war er.
Der Schmerz.
Nicht in seinem Kopf, nicht in seiner Kehle.
In seinem Herzen.
Es weinte.
Es litt.
Es ziepte.
Es wand sich.
Es wehrte sich.
Und dann kam das, was es seit Ewigkeiten nicht mehr bei Eduardo Marino gegeben hatte.
Tränen.
Salzige, bittere, schmerzhafte Tränen.
Sie waren wie Säure, brannten Narben, Kennzeichen, in seine Haut.
Alles tat ihm weh.
Alles erinnerte ihn.
Er war offiziell gebrandmarkt.
Gebrandmarkt als gebrochener Mann.
Vor wem?
Vor Gott.ADAM'S POINT OF VIEW; 5AM
Seit Stunden lag ich wach.
Meine Augen brannten, waren trocken, wie Sandpapier.
Jede Bewegung tat mir weh.
Das Blinzeln war anstrengend, ich konnte mich nicht rühren.
Ich fühlte mich, als ob ich ertränke.
Alles um mich war still.
Keine Vögel.
Keine Grillen.
Nur die Uhr.
Spöttisch.
Argwöhnisch.
Deine Zeit läuft ab.Tick, tack.
Deine Zeit mit ihr läuft ab.
Tick, tack.
Die Stunde der Entscheidung rückt näher.
Tick, tack.
Die Zeit der Harmonie ist vorbei.
Tick, tack.
Der Moment rückt näher, an dem du sie brechen und ihr all die schrecklichen Dinge zeigen musst.
Tick, tack.
Die Dinge, die dir fast jede Nacht Alpträume bereiten.
Tick, tack.
Danach wird sie nicht mehr die Selbe sein.
Davor hatte ich am meisten Angst.
Dass sie sich ändern würde.
In sich zusammenfallen würde.
Ich seufzte.
Dann schloss ich die Augen, hörte ihren Herzschlag auf einmal ganz deutlich.
Ihr ruhiges Atmen.
Das Rascheln der Decke.
Meine Seele brannte.
Mein Herz blutete.
Mein Kopf war eine Hydraulikpresse.
Mein Rücken ein zusammengewürfelter Haufen Nerven auf Nägeln.
Und dann eine Träne.
Nur eine.
Eine Einzige.
Die Eine.
Über meine Schläfe grub sie Furchen in meine Haut.
Und ich ließ es einfach kommen.
Der Druck war nicht mehr auszuhalten.
Vor Scham bedeckte ich erst meine Augen, dann meinen Mund.
Ich hatte mich selbst stumm und blind gemacht.
Meine Kehle war trocken, ein kleiner Fluch kam mir über die Lippen.
Ich wand mich hin und her, mein Körper bebte.
Ich rollte mich zusammen, bevor ich mich aufsetzte und den Kopf senkte, meine Hände in den Nacken legte.
Dann legte ich mich zurück auf meinen Rücken und starrte stumm weinend an die Decke über meinem Bett.
Etwas regte sich neben mir.
Ich bemerkte es nicht.
Ich war zu sehr damit beschäftigt, mir vorzustellen, wie es wäre, wenn wir einfach normal wären.
Wenn wir in die Schule gehen würden.
Ausgehen.
Essen gehen.
Mit Freunden im Park rumhängen.
Filme gucken.
Nicht vor Mördern fliehen müssen.
Und dann eine warme, weiche Hand an meiner nassen Wange.
Ich gab einen wimmernden Laut von mir und bewegte zaghaft meine Hand auf ihre zu.
Sie strich mir mit ihrem Daumen die Tränen hinfort und hörte nicht damit auf, ich wollte es auch nicht.
Mittlerweile umklammerte ich ihre Hand mit meiner, relativ fest, meine Finger schob ich zwischen ihre.
Sie strahlte so eine Ruhe aus, eine Wärme.
Eine Liebe.
Sie sagte nichts, alles, was sie tat, war, sanft mein Gesicht zu berühren, um mich spüren zu lassen, dass sie da war.
Ihre schlanken Finger strichen über meine Stirn, bevor sie auch die zweite Hand an meine andere Wange legte.
Sie drückte liebevoll und ganz leicht ihre Lippen auf meine Stirn.
Für eine weitere Minute war es still.
Langsam hatte ich mich dann hingesetzt, mich in ihre Arme geflüchtet und meinen Kopf an ihre Schulter geschmiegt.
Die Augen hatte ich geschlossen, ihr Kinn berührte ab und zu meine Haare.
Langsam hatte ich mich beruhigt und konzentrierte mich ganz und gar auf ihre Hand, die mir nun den Schmerz lindernd durch die Haare an meinem Hinterkopf strich. Gleichzeitig malte sie auch Kreise auf meine Kopfhaut und hielt sich dann ganz sanft daran fest.
Nun lehnte ich mich etwas zurück und sah in ihr gütiges Gesicht.
Sie strich mir eine Strähne aus der Stirn.
Ihr Zeigefinger fuhr an der Seite meines Gesichtes herunter und strich auch über mein Kinn, bis sie es in die Hand nahm und ihr Daumen ehrfürchtig meine Unterlippe berührte, etwas nach unten zog."Ich bin so dankbar", flüsterte sie und ließ ihren Blick über mein Gesicht wandern. Ich ließ sie ausreden, wollte wissen, was sie sagte. "So dankbar. Für dich."
"Für mich?" Meine Stimme klang tief, heiser, rau. Ich hatte den ganzen Abend kaum ein Wort gesprochen.
"Adam." Sie legte den Kopf schief und zeigte den Ansatz eines matten Lächelns. Beider ihrer Hände ruhten auf meiner Brust. Das beruhigte mich. "Besonders für dich."
Ich antwortete nicht. Es war still. Sie runzelte die Stirn.
Sie sollte das nicht tun.
Ich mochte es nicht, wenn sie sich Sorgen machte.
Immer noch war kein Wort über meinen Mund gekommen.
Sie war diejenige, die sprach."Weißt du das denn nicht? Dass ich so unfassbar dankbar für dich bin?" Ich wandte den Blick ab. Ich wollte sie ansehen, doch ich schämte mich so. So, so sehr.
"Adam, sieh mich bitte an." Ich liebte es, wie sie meinen Namen sagte. Ganz sanft. Mit Liebe. Mit so einer starken Liebe, dass ich nicht anders konnte, als hinzusehen. In ihre wunderbar hellen, blauen Augen. Goldene Sprenkel glitzerten bei ihrem Blick.
"Du bist das Beste, was mir passieren konnte. Ich bin hier. Genau hier, vor deinen Augen, und so froh, dass ich mich auf dich eingelassen habe, dass ich mich dir geöffnet habe." Ich sagte wieder nichts. Doch dann machte ich (nach einem Moment der Überlegung) den Mund auf.
"Ich habe Angst, Ciana. Große Angst."
"Aber wovor?" Ihre beiden Hände lagen in meinem Nacken, unsere Gesichter auf der selben Höhe.
"Davor, dass... dir etwas passieren könnte. Weil du nicht sicher bist. Noch nicht ganz", gestand ich ihr und spürte wieder Tränen in mir aufsteigen. Ich blinzelte sie weg. Ciana lächelte nur leicht, zog mich an sie heran und hielt mich ganz fest.
"Mir kann gar nichts geschehen, wenn du bei mir bleibst. Und dir kann nichts passieren, wenn du bei mir bist, okay?", hauchte sie in mein Ohr und hielt meinen Kopf sanft an sich gepresst.
"Okay", hörte ich meine brüchige Stimme sagen, sie war schwach und voller Schmerz. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, sagte sie genau das, was ich hören wollte.
"Du bist kein Versager, Adam. Und du bist auch nicht schwach, wenn du weinst. Vor mir musst du nichts verstecken, hörst du?" Sie nahm mein Gesicht in beide Hände, sah mir eindringlich in die Augen. "Versprichst du mir das? Dass du mir immer sagst, was dir durch den Kopf geht? Nichts vor mir versteckst?"
Ich nickte mehrmals und sah ihre Lippen an. Sie waren leicht geöffnet und sahen so weich aus.
"Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich küssen will, Ciana."
"Warum tust du es dann nicht?"
***
10:39, 20. Januar 2019Ciao bellissimi,
uhhhh - beide Männer weinen in diesem Kapitel... Hiermit wollte ich einfach mal zeigen, dass es nicht schlimm ist, zu weinen, unabhängig vom Geschlecht.
Frauen können auch gut trösten.
Männer können auch große Angst haben.Trotzt den Klischees!!
Arrivederci amici della letteratura,
Sanja :)
P.S.: Ich habe einen Instagram Account für Schreiberlinge und Dichter gemacht — er heißt @lovelylittlepoetry . Schaut gern mal vorbei!
V O K A B U L A R
Ciao - Hallo sowie Tschüss
i bellissimi - die Schönen, Plural der Substantivierung des Adjektives "bellissimo"
Arrivederci - Auf Wiedersehen
amici - Plural des Nomens "amico" welches Freund bedeutet
della - Kombination der Worte 'de' (von) und 'la' (die), in diesem Fall der (Zugehörigkeit)
la letteratura - die Literatur
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ᴀᴅᴀᴍ
Teen FictionADAM GROẞES FINALE GERADE IN PLANUNG Ciana Marino, süße siebzehn Jahre alt, gehört zu DER Familie in Merridale. Italienisch, reich und unfassbar arrogant - diese Familie ist so graziös wie sie mächtig und gefährlich ist. Doch für Ciana könnte das L...