New York City, 1. Juli 1930
Es war ein heißer, staubtrockener Nachmittag. Ich schlenderte die Gehwege entlang, vorbei an den vielen Geschäften mit ihren leergefegten Schaufenstern und verwaisten Regalen. Ich hatte mir meinen Korb über den Arm gehängt und verbrachte den Nachmittag damit, einige wenige Lebensmittel zu überteuerten Preisen zu erwerben und den Verlust dabei so gering wie möglich zu halten. Als alleinstehende Krankenschwester war mein Budget ja nicht gerade üppig. Und in dieser Zeit erst recht nicht. Der Zusammenbruch der Börse im vergangenen Jahr hatte eine gewaltige Kette von großen und kleineren Katastrophen ausgelöst. Beinahe die gesamte Industrie kam zum Erliegen und Import und Export wurden fast vollkommen eingestellt, ja sogar von der Regierung untersagt. Dies führte zu einer Knappheit an so gut wie allem und ließ die Preise steigen. Gleichzeitig sanken die Löhne und Gehälter und führten zu großer Armut. Viele Leute wanderten vom Land in die großen Städte auf der Suche nach Arbeit, um ihre Familien durchzubringen. Ich allein verkörperte die zweite Generation meiner Familie in diesem Land. Unsere Vorfahren stammten aus einem kleinen Fischerdorf in der Nähe von Dublin. Immer noch in Gedanken versunken setzte ich meinen Weg durch den Meatpacking District fort. Vor einer Fleischerei blieb ich stehen und betrachtete durch die Scheibe die traurigen Reste, die die reichere Bevölkerung uns einfachen Leuten gelassen hatten. Da ich heute Frühschicht im Krankenhaus hatte, konnte ich meinen Einkauf nicht, wie üblich, früh morgens erledigen und musste mich jetzt mit dem abfinden, was ich noch auftreiben konnte. Stirnrunzelnd ging ich die Liste in meinem Kopf durch und rechnete aus, ob mein Geld noch für ein Stück Fleisch reichen würde. Vom Geschäft daneben schepperte die kleine Türglocke heftig und die Tür flog auf. Noch bevor ich mich ganz in diese Richtung gedreht hatte, wurde ein junger, schlaksiger, braun gebrannter Mann von zwei bulligen, hemdsärmeligen Angestellten unsanft auf den Gehsteig befördert. Sie hatten ihn unter den Armen gepackt und einfach auf den Boden geschleudert. Anschließend beschimpften sie ihn noch etwas in einer Sprache, die ich für polnisch hielt und schlurften schnaufend und schwitzend in den Laden zurück. Der junge Mann, ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, rappelte sich auf und klopfte sich leise fluchend den Staub von den Kleidern. Er trug eine einfache dunkle Hose mit Hosenträgern und ein ehemals weißes, etwas fadenscheiniges Hemd, ein Arbeiter. Er war wirklich sehr braun gebrannt und sein schulterlanges, rabenschwarzes Haar, das zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden war, glänzte in der heißen Nachmittagssonne. Er war offenbar ein Indianer. Kein einziges Barthaar verunzierte sein kantiges Gesicht, er hatte hohe Wangenknochen, volle, schön geschwungene Lippen und eine lange, gerade Nase. Als er mich bemerkte, trafen mich diese großen, dunklen Augen direkt ins Herz, eine filigran geschwungene, pechschwarze Augenbraue schoss in die Höhe und ein schelmischer Ausdruck trat in sein Gesicht. Ich musste ihn wohl auffällig angestarrt haben und etwas verlegen senkte ich den Blick und versuchte, mich wieder dem Schaufenster zu widmen. Doch als ich mich wieder dem Geschäft zuwandte, wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich etwas rot anlief. Ich konnte ihn nicht mehr sehen, doch er musste noch dastehen. Ich hatte ihn nicht weggehen hören. Er räusperte sich. Verflucht, jetzt musste ich mich zu ihm umdrehen und in Gedanken sah ich schon mein hochrotes Gesicht unter meiner Schwesternhaube leuchten wie ein Signalfeuer. Ich atmete tief ein und zwang mich zur Ruhe. Um Himmels Willen mach dich doch nicht lächerlich, Liz! Du bist doch kein kleines Mädchen! Und so sammelte ich meinen Mut, straffte die Schultern und drehte mich wieder um. Und er war fort.
Immer noch in Gedanken versunken setzte ich meinen Einkauf fort, doch ich konnte mich nicht recht konzentrieren. Immer wieder schweiften meine Gedanken zu diesem jungen Mann zurück. Obwohl er äußerlich nichts Auffälliges an sich hatte, nun, zumindest nicht auffälliger als üblich, wirkte er doch so befremdlich auf mich, dass er auch ein Gespenst hätte sein können. Ich hatte meinen Korb schon so voll gepackt, dass mir von dem Gewicht der Arm schmerzte, doch ich musste noch schnell zum Bäcker auf der anderen Seite und hoffen, dass er noch etwas Brot übrig hatte. Das war nun schon die vierte Bäckerei, die ich ansteuerte und ich beschloss, wenn dieser auch vollkommen leer gekauft war, würde ich es einfach aufgeben und nach Hause gehen. Ich war seit heute Morgen um 5 Uhr auf den Beinen und spürte jeden Knochen im Körper, doch vor allem meine Füße. Meine Schuhe waren auch nicht mehr die neuesten und schon sosehr ausgetreten, dass sie exakt die Form meiner Fußsohlen angenommen hatten. Ich hätte eigentlich gedacht, dass sie dadurch etwas komfortabler wären, doch die Sohle war bereits so dünn, dass ich jedes Steinchen hindurch spürte. Ich überquerte die Straße, in Gedanken immer noch bei meinen Schuhen, als ich aus der Richtung der Bäckerei eine vertraute Stimme vernahm. Vor der Tür angebunden, saß eine kleine, bunt gefleckte Promenadenmischung. Als der Hund mich erblickte, zerrte er wie wild an seiner Leine und begrüßte mich mit heftigem Schwanzwedeln und aufgeregtem Bellen. Ich ging auf das Tier zu und ließ mir die Hand ablecken, dann steuerte ich auf die geöffnete Tür der Bäckerei zu, immer noch das freudige Bellen des kleinen Hundes im Ohr. Ich trat ein und schaute direkt in das sonnengegerbte, faltige Gesicht meiner Tante Mildred, die gerade heftig mit dem Bäcker feilschte. Die Tür der Bäckerei stand offen und ich trat hindurch und grüßte erst den Bäcker, einen korpulenten, kahlköpfigen Mann, den ich auf Ende 40 schätzte, mit einem kurzen Kopfnicken und wandte mich dann meiner Tante zu. "Hallo, ich hoffe du kaufst da nicht gerade das letzte Brot?" Mit einem kurzen, gespielten Aufschrei wandte sie sich zu mir um und bevor ich mich ihr entziehen konnte, hatte sie mich zu sich heruntergezogen und umarmte mich derart heftig, dass mir beinahe die Luft wegblieb. "Hallo Liebes! Die letzten BEIDEN Brote wollte ich gerade erstehen, aber dieser Gauner hier" Sie wandte den Kopf in Richtung des Bäckers, der sich bei dieser Bezeichnung seiner Selbst gefährlich aufblies und tief Purpur anlief "will doch ernsthaft zwei Quarter für jeden Laib!" Ich schnappte theatralisch nach Luft und schlug mir mit der Hand vor die Brust. Dann warf ich dem Bäcker einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu und zwinkerte. Bei dieser Geste entspannte er sich etwas. "Warum wartest du nicht draußen und lässt mich das hier schnell regeln, Tantchen?" Ich schob sie unter anhaltendem Lamentieren und Schimpftiraden vor die Tür und atmete tief durch. Dann wandte ich mich wieder dem Bäcker zu, der sich nun auch etwas entspannte. Ich sah ihn herausfordernd an und hob eine Augenbraue "Zwei Quarter, ja?" Er brummte etwas von "Muss auch meinen Lebensunterhalt verdienen Ma'am." und "Nicht leicht dieser Tage..." Ich seufzte tief, winkte ab und legte ihm das Geld für die beiden Brote auf den Tresen. Er nickte wie zu sich selbst und reichte mir die Laibe in Wachspapier gewickelt. Ich dankte ihm höflich und verließ das Geschäft. Meine Tante Mildred hatte sich auf die Stufen des Nachbarhauses gesetzt, erhob sich aber, als sie mich kommen sah. Der Hund, nun etwas beruhigt durch die Anwesenheit seines Frauchens, schnüffelte konzentriert an meinem Knie. Ich reichte ihr einen Brotlaib. "Ich habe sie zum halben Preis bekommen, aber dafür gibst du mir eins ab." Sie lachte sosehr, dass sich die kleinen Fältchen um ihre Augen vertieften. "Also gut, Liebes. Möchtest du nicht zum Abendessen mitkommen? Ich habe vorhin ein Pfund wunderbare Muscheln auf dem Fischmarkt ergattert." Ich musste ebenso lächeln und nahm ihr Angebot gern an. So schlenderten wir Arm in Arm durch die Straßen zu ihrer kleinen Wohnung in Soho, Minnie, der kleine Hund meiner Tante, wackelte gut gelaunt hinter uns her. Ein wenig wehmütig dachte ich an den langen Heimweg nach Lenox Hill, der mir später noch bevorstand und an meine schmerzenden Füße, doch ich genoss jede Gelegenheit, Zeit mit meiner Tante Mildred zu verbringen. Seit dem Tod meiner Eltern vor vier Jahren, war sie der letzte Rest Familie, der mir noch geblieben war. Wir alberten noch ein wenig herum auf dem Weg und ich war, wie jedes Mal, angenehm überrascht, wie rüstig Tante Mildred mit ihren 54 Jahren immer noch war. Ich hatte sie schon als ganz kleines Kind sehr gern gemocht. Sie hatte immer etwas Übernatürliches an sich, so einen wachen, wissenden Blick, als wüsste sie ganz genau, was in einem vorging. Und ich war mir vollkommen sicher, dass sich das seit jeher kein bisschen verändert hatte. Sie wusste immer sofort Bescheid, wenn etwas nicht stimmte, so als könnte sie die Gefühle anderer Menschen spüren.
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I see fire
Romance... Als ich vorsichtig den Kopf in die Dunkelheit streckte, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten und ich etwas erkennen konnte. Ich machte ein, zwei Schritte in die Gasse hinein und sah mich um. I...