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Sam war völlig am Ende, doch er war immer noch überzeugt, dass er richtig gehandelt hatte, als er sich davonstahl. Hauptsächlich hatte er dabei an das Wohl von Liz gedacht, doch er hatte auch andere Gründe. Er wäre niemals in der Lage gewesen, die Rechnung für die Behandlung und den Krankenhausaufenthalt zu bezahlen. Und Schulden konnte er seiner Familie nicht auch noch zumuten. Schließlich war er von Zuhause fort gegangen, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Er schwitzte und zitterte gleichermaßen und konnte sich kaum auf dem Füßen halten. Vor seinen Augen tanzten bunte Punkte und sein gesamter Bauchbereich pochte und brannte schmerzhaft. Er lief gekrümmt und hielt sich die Hände vor den Verband unter seinem Hemd. Er wusste schon lange nicht mehr, wo er sich genau befand. Er lief einfach weiter, weil er ernsthaft fürchtete, zu sterben, sobald er sich irgendwie niederlegte. Er hatte den ganzen, brütend heißen Tag damit verbracht, von Baustelle zu Baustelle zu wandern und nach Arbeit zu fragen. Alle hatten ihn entschieden abgelehnt, manche hatten ihn ängstlich angestarrt und ihn hastig vom Gelände gejagt, immer darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Sie fürchteten, er könnte eine ansteckende Krankheit haben, manche fragten ihn offen, ob er Alkoholiker oder drogenabhängig war. Es war aussichtslos. So lange es ihm so schlecht ging, war er sowieso nicht in der Lage, die schwere Arbeit zu verrichten. Und so lange er so schlecht aussah, würde ihm auch niemand eine Chance geben, sein Können unter Beweis zu stellen. Sein Magen knurrte erbarmungslos, schon seit Stunden. Es war bereits stockdunkel, was seiner mangelhaften Orientierung auch nicht gerade zuträglich war. Ganz langsam wandte er den Kopf hin und her, suchte nach etwas, vielleicht eine Suppenküche? Ein Armenhaus? Er war zu allem bereit, seine Lage wurde langsam bedrohlich. Die Gegend, in der er sich befand, war heruntergekommen, die Straßen waren ausgestorben. Er hatte das Zeitgefühl verloren, keine Ahnung, wie spät es war. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er in eine Sackgasse eingebogen war, bis er beinahe mit einer mehrstöckigen Ziegelmauer zusammengestoßen wäre. Er fiel auf die Knie und schrie seine Verzweiflung heraus. Dann drückte er die Stirn an die Mauer und genoss für einen Moment das Gefühl der kühlen Steine auf seiner Haut. Hast du etwa Fieber? Der Gedanke blitzte auf und verschwand sofort wieder in dem undurchdringlichen Nebel seines Kopfes. Dann erschien ein Bild vor seinem inneren Auge; Liz, wie sie seine Hand ergriff und ihm zulächelte. In seinen Gedanken umfing sie ein Leuchten, wie ein goldener Schimmer. Sie lächelte auf ihn herab und er fühlte die Wärme, die ihn in diesem Moment ergriffen hatte erneut. So musste der Himmel aussehen. War er gerade gestorben? Dann verschwand Liz wieder aus seinen Gedanken und hinterließ leere, schwarze Dunkelheit.
Ich war rastlos und zittrig, ich hatte die ganze Nacht kaum geschlafen, war die meiste Zeit wie ein wildes Tier durch das Apartment gestreift, ich konnte einfach keinen Frieden finden. Es konnte ihm alles Mögliche zugestoßen sein. Am meisten Sorge bereitete mir allerdings die Frage, wie wir ihn finden sollten. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wo er sein könnte, oder wo wir mit der Suche beginnen sollten. Es war jetzt geschätzt das vierzehnte Mal in dieser Nacht, dass aus dem Bett kletterte und mich ans offene Fenster setzte, um mir eine Zigarette anzuzünden. Jedes Mal, wenn ich das tat, drehte Tante Milly sich im Bett um, zog sich die Decke über den Kopf und stöhnte entnervt oder murmelte Dinge wie "Diese jungen Leute..." oder "Liebeskranke Verrückte..." Auch der Hund spürte meine innere Unruhe und wanderte ständig nervös zwischen Tante Milly und mir hin und her. Als sich der Himmel am Horizont langsam golden färbte, hielt ich es nicht mehr aus. Ich sprang aus dem Bett, direkt in mein Kleid, band mir im Laufen die Haare zusammen und bereitete unter hektischem Geklapper das Frühstück in der Küche. Freudig schwanzwedelnd folgte mir Minnie auf dem Fuß, setzte sich erwartungsvoll zu meinen Füßen hin und durchbohrte mich mit ihrem Blick. Tante Milly kam hinzu, noch im Morgenmantel, und setzte sich leise grummelnd an den Küchentisch. Ich machte schnell ein paar Sandwiches für unterwegs, wickelte sie in Wachspapier, füllte eine Flasche mit Wasser und verstaute alles in meiner braunen Umhängetasche. "Iss doch etwas, bevor wir aufbrechen Kind, der Tag wird bestimmt wieder kochend heiß." Ich starrte sie mit offenem Mund an, als hätte sie mir gerade vorgeschlagen, mir einen Pflasterstein vor den Kopf zu schlagen. "Ich. Kann. Nicht.... Lass und jetzt bitte endlich gehen!" Sie stand resigniert auf und eilte ins Schlafzimmer, sie zog sich hinter der Tür an. Minnie bellte und hüpfte aufgeregt umher. Offenbar freute sie sich auf einen Spaziergang. Ich schritt ungeduldig im Flur auf und ab und versuchte, einen Schlachtplan auszuarbeiten. Am besten wäre es, wenn wir an seiner letzten Arbeitsstelle anfingen. Eine andere Idee hatte ich nicht, denn wo sich das Arbeiterquartier befand, wusste ich nicht und ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht noch einmal im Krankenhaus auftauchen würde. "Warum hast du es eigentlich so eilig?" Tante Milly kam auf einem Bein aus dem Schlafzimmer gehüpft, gerade dabei, sich den zweiten Strumpf überzuziehen. "Ich habe einfach ein ungutes Gefühl" gab ich zurück. "Irgendetwas ist nicht in Ordnung." Sie nickte nur, schlüpfte in ihre Schuhe und stolperte fast über Minnie, die ihr aufgeregt zwischen die Beine lief.
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I see fire
Romance... Als ich vorsichtig den Kopf in die Dunkelheit streckte, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten und ich etwas erkennen konnte. Ich machte ein, zwei Schritte in die Gasse hinein und sah mich um. I...