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Kahnawake Reservat, Kanada, 2. Mai 1931

Ich saß entspannt auf der kleinen Holzbank vor der Blockhütte, genoss die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht und streckte genüsslich meine nackten Füße aus. Sie waren mittlerweile so geschwollen, dass mir keine Schuhe mehr passten, doch da es mittlerweile sommerlich warm war, lief ich meist barfuß herum. In New York wäre das undenkbar gewesen, von dem Dreck und der Verletzungsgefahr ganz abgesehen, hätte es wahrscheinlich erneut einen Skandal ausgelöst. Doch hier im Reservat gingen die Menschen freundlich und tolerant miteinander um. Vor meiner Ankunft hatte ich befürchtet, mich freiwillig in ein Gefängnis zu begeben, doch mit jedem weiteren Tag hier fühlte ich mich freier, als je zuvor in meinem Leben. Und mit meinen nackten Füßen und den mittlerweile gefährlich eng anliegenden Kleidern fiel ich hier nicht besonders auf. Die Mohawk waren um einiges freizügiger, als die verklemmten Menschen in den Großstädten. Von meinem Platz aus konnte ich in einiger Entfernung das Ufer des St.-Lorenz-Stroms erkennen. Dort tollten splitternackte Kinder völlig unbehelligt im noch kühlen Wasser, während ihre Mütter leicht bekleidet in Grüppchen am Strand saßen und das Mittagessen über dem Feuer brieten. Vom Frühjahr bis zum Herbst begegnete man hier fast ausschließlich Frauen und Kindern, da die Männer fast alle durch das Land zogen, um zu arbeiten. Die übrig gebliebenen Frauen und alten Leute arbeiteten hauptsächlich auf den kleinen Feldern, die sich jede Familie hier angelegt hatte. Und da die Aussaat schon vor über einem Monat erledigt war und es noch mindestens zwei Monate bis zur ersten Ernte dauern würde, herrschte in Kahnawake ruhige, ausgelassene Stimmung, als wäre dies hier ein Ferienort.

Mein kleiner Mann wurde unruhig in meinem Bauch, er mochte es lieber, wenn er von meinem watschelnden Gang in den Schlaf geschaukelt wurde. Jetzt saß ich schon eine Weile fast bewegungslos auf der Bank und genoss die Ruhe, was ihm offenbar nicht gefiel. Empört trat und schlug er in meinem Bauch herum, sodass ich mich seufzend in mein Schicksal ergab und mich unter einiger Mühe von meinem Platz hoch wuchtete. Der Arzt hatte meinen Bauch nach einem Herzschlag abgehört und gemeint, da wäre nur ein Baby drin, doch mein Körper hatte mittlerweile so ausladende Maße angenommen, dass ich mich immer wieder fragte, ob es nicht vielleicht doch Zwillinge waren. In meinem Bauch herrschte meist so viel Aufregung, dass ich nicht sagen konnte, wie viele Arme und Beine da gerade herum strampelten.

Ich griff meinen Korb von der Bank und watschelte gemächlich den sandigen weg hinab in Richtung Ortsmitte. Irgendwie gelüstete mir nach frischem Maisbrot. Vielleicht konnte ich ja beim Lebensmittelhändler noch ein Stück ergattern. Sams und James‘ Mutter hatte sich als eine herzliche, kluge, kleine Matrone entpuppt, die mich bei meiner Ankunft sofort in ihr Herz und ihre Arme geschlossen hatte. Die beiden jüngeren Schwestern hatten mich ebenso vorbehaltlos in ihrem Zuhause willkommen geheißen. Sam und James hatten sich nicht geirrt, ich war sofort ein Teil der Familie geworden und beteiligte mich gerne an gemeinsamen Aufgaben und Aktivitäten. Heute waren die drei jedoch auf dem Feld, um Unkraut zu jäten und zu pflügen. Ich hatte zwar beteuert, dass es mir nichts ausmachen würde, doch sie bestanden vehement darauf, dass ich in meinem Zustand und bei der brennenden Sonne zuhause bleiben sollte. Irgendwann ergab ich mich seufzend in mein Schicksal und tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich so ein wenig meine geschwollenen Füße schonen konnte.

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