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New York City, 21. April 1931
Es war ein Kinderspiel gewesen, Elias davon zu überzeugen, dass meine überstürzte Flucht neulich nur ein Produkt meiner überkochenden Hormone war und ich seinem Antrag eigentlich nicht abgeneigt sei. Offenbar hatte ich einfach genau das gesagt, was er hören wollte, denn er hatte meine Erklärungen sofort mit einer ungeduldigen Handbewegung abgetan und konnte es gar nicht abwarten, mir den sündhaft teuren, protzigen Ring an den Finger zu stecken. Das Teil fühlte sich unglaublich fremd und störend an, wie ein Tumor, der aus meinem Ringfinger wuchs. Ich hasste es, ihn zu tragen, doch ich wollte meine Tarnung nicht auffliegen lassen. Jeden Tag, wenn Elias zur Arbeit aufbrach, saß ich am Fenster und starrte auf die überfüllten, verdreckten, nassen Straßen von Manhattan und hoffte, dass Sams Bruder endlich auftauchen würde. Es war jetzt etwa eine Woche her, dass ich Sam im Gefängnis besucht hatte. Der Wärter hatte mir gesagt, als Verlobte dürfe ich ihn zweimal im Monat besuchen kommen und da ich davon ausgehen musste, dass ich in ein paar Tagen außer Landes war, hatte ich beschlossen, heute noch einmal hinzufahren.
Elias hatte heute Spätschicht, das bedeutete seine Arbeitszeit begann um 14:00 Uhr und endete um 22:00 Uhr. Um 13:30 Uhr beobachtete ich ungeduldig vom Fenster aus, wie er den Kragen seines langen Mantels zum Schutz vor dem Frühlingsregen hochklappte und um die nächste Ecke verschwand. Jetzt konnte ich nicht mehr warten, hastig griff ich meinerseits nach meinem Mantel und meiner Umhängetasche, griff im Vorbeigehen die Schlüssel von der Kommode und watschelte die Treppen hinunter, so schnell ich konnte. Auf der Straße angekommen blickte ich mich unsicher zu allen Seiten um, man konnte ja nie wissen, doch Elias war sicher schon einige Blocks entfernt. Dann machte ich mich auf in dieselbe Richtung, zur Grand Central Station.
Im Bahnhof war es gerammelt voll, ich war geschwitzt von dem anstrengenden Marsch und hatte Seitenstechen. Ich stellte mich erstmal in eine Ecke, um der hektischen Menge zu entkommen und stemmte die Hände in die Hüften, um wieder zu Atem zu kommen. Da sah ich, wie ein junger Mann auf mich zukam, oder wollte er nur an mir vorbei? Nein, er kam direkt auf mich zu und blickte mich mit besorgter Miene an. Als er näher kam, wandte ich verwundert den Kopf in seine Richtung. "Miss, geht es Ihnen nicht gut? Möchten Sie sich setzen?" Im ersten Moment blickte ich völlig ungläubig in diese fremden, grünen, gar nicht so unattraktiven Augen. Dann fiel der Groschen und ich fing an, ausgelassen zu lachen. Jetzt war es an ihm, mich völlig verdutzt anzustarren. Ich winkte immer noch lachend ab. "Oh nein, alles in Ordnung, vielen Dank. Ich habe noch fast zwei Monate!" Der junge Mann wirkte jetzt deutlich weniger nervös, offenbar hatte er Angst bekommen, er müsste jetzt die Hebamme geben. Doch der Gentleman in ihm ließ dennoch nicht locker. "Miss, verzeihen Sie mir, aber Sie sehen trotzdem nicht so gut aus." Ich musste wieder lachen. "Sir, ich weiß ihre Ritterlichkeit zu schätzen, doch es ist wirklich alles in Ordnung, ich habe nur einen langen Marsch hinter mir." Er nickte und ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete. Oh je, was hatte er vor? "Gestatten Sie mir dennoch, Miss, dass ich Ihnen ein Glas Wasser hole?" Ich ließ mich wenig damenhaft auf eine der Holzbänke plumpsen und streckte genüsslich meine schmerzenden Füße aus. "Das, Sir, wäre sehr freundlich." Er wartete kaum, bis ich den Satz beendet hatte, da sprintete er auch schon davon und ich überlegte noch, ob ich die Gelegenheit beim Schopf packen und mich davonmachen sollte, bevor er zurückkam. Nachher kam er noch auf die Idee, mich zu begleiten, bis nach Ossining! Mir war momentan nicht unbedingt nach Gesellschaft zumute, schon gar nicht nach Gesellschaft von Männern! Doch letztendlich entschieden meine geschundenen Füße, also blieb ich sitzen, bis der junge Herr kurze Zeit später mit einem Glas Wasser von wo auch immer zu mir zurückgeeilt kam. Ich bedankte mich höflich und leerte das Glas mit einem Zug, dann wuchtete ich meinen Körper von der Bank hoch und wollte endlich zum Schalter und mir ein Ticket kaufen, nicht dass ich noch den Zug verpasste. Im Gehen wandte ich mich dem Gentleman zu "Haben Sie vielen Dank, Sir, aber ich muss jetzt meinen Zug erwischen." Er sah mich direkt an und wieder konnte ich erkennen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Bevor er sich noch etwas einfallen lassen konnte, winkte ich ihm höflich und fügte noch hinzu "Ich wünsche Ihnen eine gute Reise." Dann wandte ich mich um und versuchte so schnell es ging in der Menge unterzutauchen. Ich hatte auch diesmal wieder Glück, der Zug nach Ossining sollte in 20 Minuten gehen, also watschelte ich schon einmal zum richtigen Bahngleis, was ja allein schon 10 Minuten in Anspruch nahm. Dann ließ ich mich dort erleichtert auf die nächstbeste Bank fallen und genoss für einen Moment die Einsamkeit. In meinem Bauch begann der kleine Kerl, der offenbar bis vor kurzem geschlafen hatte, Purzelbäume zu schlagen und es fühlte sich eigenartig an, wie Wellen unter Wasser. Ich legte verwundert die Hand auf meinen Bauch und betrachtete stirnrunzelnd, wie sich die Oberfläche mal hier, mal dort ausbeulte, unter meiner Kleidung deutlich erkennbar. So in meine Beobachtung vertieft, hatte ich nicht mitbekommen, dass der junge Gentleman sich ebenfalls auf dem gleichen Bahnsteig befand und mich von der Seite neugierig beäugte. Irgendwann jedoch spürte ich das vertraute Kribbeln in meinem Nacken, das sich immer einstellte, wenn mich jemand beobachtete, und wie von selbst wandte ich den Kopf in seine Richtung. Er fühlte sich ertapp, blickte hastig in eine andere Richtung und zog sich den Hut tiefer ins Gesicht, doch ich hatte überdeutlich erkennen können, dass seine Gesichtsfarbe einen tiefroten Ton angenommen hatte. Was wollte der Kerl nur? Er konnte ja wohl kaum ein Auge auf mich geworfen haben, schließlich hatte ich im Moment mehr Ähnlichkeit mit einer Seekuh, als mit einer attraktiven Frau. Nein, diese Möglichkeit schloss ich kategorisch aus. Was also könnte es sonst sein? Wollte er mir etwas antun? Ich betrachtete nachdenklich meinen riesigen Bauch und die geschwollenen Füße und rechnete mir aus, dass meine Fluchtchancen in diesem Zustand etwa gegen Null gingen. Also blieb mir nur eine Möglichkeit, die Flucht nach vorn! Immer noch den Blick des jungen Mannes im Nacken, erhob ich mich so elegant wie möglich von der Bank und schritt entschlossen direkt auf ihn zu. Als er bemerkte, dass ich auf ihn zukam, wurde seine Gesichtsfarbe noch dunkler. Als ich ihn so würdevoll wie möglich erreicht hatte, setzte er eine Unschuldsmiene auf und fragte unverbindlich "Kann ich Ihnen helfen, Miss?" Ich hob eine Augenbraue und blickte ihm durchdringend direkt in die großen, dunkelbraunen Augen. Erst jetzt fiel mir auf, dass er für Anfang April schon eine beachtliche Bräune hatte. Sein glänzendes schwarzes Haar war gut unter dem Hut verborgen, doch jetzt fiel es mir auf. Er war Indianer. Und wenn schon. Dachte ich und räusperte mich ungehalten. "Ich hoffe, Sie können mir sagen, weshalb Sie mir folgen und mich bespitzeln!?" Er fühlte sich sofort ertappt und die Röte in seinem Gesicht nahm neue, ungeahnte Dimensionen an. Er räusperte sich verlegen und grübelte. Offenbar suchte er nach den passenden Worten. Ich hatte mich in der Zwischenzeit mit verschränkten Armen vor ihm aufgebaut und tippte ungeduldig mit dem Fuß. Nach einigen Sekunden fasste er offenbar einen Entschluss. Er holte tief Luft und wappnete sich für das Kommende. "Weißt du nicht mehr, wer ich bin, Liz?" Mir fiel die Kinnlade herunter. Woher wusste der Kerl denn jetzt meinen Namen? War er vielleicht ein alter Verehrer, den ich ebenfalls vergessen hatte? In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken und die verrücktesten Szenarien bildeten sich. Da es mir völlig die Sprache verschlagen hatte, stand ich einfach nur mit offenem Mund vor ihm und schüttelte ahnungslos mit dem Kopf. Er setzte nach einer kurzen Pause wieder zum Sprechen an. "Ich bin James, weißt du nicht mehr? Ich habe im Herbst ein paar Tage bei euch übernachtet, als ich mir den Fuß verstaucht hatte bei der Arbeit? Wir dachten, du wärst umgekommen bei dem Brand. Es tut mir leid, dass ich zur Beerdigung deiner Tante nicht da sein konnte, die Züge fahren erst seit Kurzem wieder, du weißt doch, der Winter in Kanada…" Ich unterbrach diesen konfusen Redeschwall, indem ich langsam die Hand hob. "Langsam!" Entfuhr es mir, etwas forscher, als beabsichtigt. In diesem Moment fuhr der Zug ein. Wir blickten uns beide völlig verständnislos an. "Lass uns im Zug weiter sprechen." Sagte ich, denn ich vermutete bereits, dass das länger dauern würde. Er nickte und schnappte sich seine große Reisetasche.
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I see fire
Romance... Als ich vorsichtig den Kopf in die Dunkelheit streckte, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten und ich etwas erkennen konnte. Ich machte ein, zwei Schritte in die Gasse hinein und sah mich um. I...