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Grenze zu Kahnawake, Kanada, 28. Mai 1931

Sam schritt den schmalen Waldpfad entlang und freute sich insgeheim schon diebisch auf den Gesichtsausdruck seiner Mutter, wenn er durch die Tür ihrer Hütte trat. Und er freute sich darauf, seine Liz wiederzusehen. In Gedanken rechnete er noch einmal den Geburtstermin aus, sie hatte noch fast einen Monat, bis das Kind kam. Einerseits wollte Sam die Zweisamkeit noch ein wenig genießen, andererseits konnte er es kaum erwarten, endlich Vater zu werden. Doch er sorgte sich auch um die Zukunft. Er musste bald eine Arbeit finden, um seine kleine Familie zu versorgen und seine Mutter und Schwestern zu unterstützen. Er musste sich also einen falschen Namen zulegen. Glücklicherweise interessierte es die Vorarbeiter auf den Baustellen sowieso nicht, wie ihre Arbeiter hießen.

Während er so durch den Wald wanderte, überlegte er sich verschiedene Namen und sagte sie sich im Inneren vor, um sie auf ihren Klang zu prüfen. Als er um die letzte Ecke bog und in einigen Metern Entfernung die Zufahrtsstraße zum Reservat erblickte, keuchte er erschrocken auf. Die simple Holzschranke, die den staubigen Feldweg zum Reservat absperrte, war heruntergeklappt und mehrere Polizisten hielten davor Wache und ließen sich von jedem Passanten die Papiere zeigen.

Blitzartig war er vom Weg in das Unterholz gesprungen und hatte sich klein gemacht, bevor der Polizist sich umdrehte und genau auf den Punkt blickte, an dem Sam eben noch gestanden hatte. Er atmete tief durch. Was war hier los? Suchten sie etwa nach ihm? Sam rechnete zurück, vor wie vielen Tagen sein Totenschein bei der Polizei eingegangen war. Vielleicht war die Nachricht noch nicht bis hierher vorgedrungen. Er seufzte entnervt auf. Einerseits machte dieser Umstand seine Heimkehr komplizierter, andererseits hoffte er auch, dass es so war, denn er wollte nicht, dass seine Familie grundlos um ihn trauerte.

Sam saß in seinem Versteck hinter einem dichten Wacholdergebüsch und beobachtete die Polizisten, die jede Seele bis auf die Knochen durchsuchte, die hinein- oder hinauswollte. Er würde an dieser Stelle niemals ungesehen an ihnen vorbeischleichen können. Er musste es woanders versuchen. Sam blickte sich verstohlen um, auf der Suche nach einer Lücke im Zaun, oder zumindest einem besseren Versteck. Er kroch, so lautlos, wie er konnte, durch das Unterholz bis zu einem riesigen, mit Moos bewachsenen Baumstumpf. Der Baum musste von einem Blitz getroffen worden sein. Unter der dicken Schicht aus Flechten und Dreck konnte Sam noch die verkohlten Ränder ausmachen, wo der Blitz vermutlich eingeschlagen war. Er hockte sich dahinter und beobachtete die Polizisten weiter. Er würde wohl hier aushalten müssen, bis es dunkel war. Es war zu riskant für ihn, sich bei Licht direkt vor ihren Blicken durch den Wald zu schleichen. Dafür war er einfach zu groß. Manchmal fluchte Sam innerlich über seine hochgewachsene, auffällige Erscheinung.

Vermutlich war das auch der Grund gewesen, weshalb die mordenden Brandstifter in New York sie überhaupt finden konnten. Sein Aussehen war für die Leute leider leicht zu merken. Jedes Mal, wenn Sam an diese schicksalhafte Nacht zurückdachte, versetzte es ihm einen schmerzhaften Stich und er fühlte wieder die aufsteigende Panik, gefangen wie ein Tier, verzweifelt einen Ausweg suchend. Er konnte sogar noch den Rauch riechen und spürte die Hitze auf seiner Haut, die ihm die Haare auf den Armen versengte. Sam spürte, wie sein Herz zu rasen begann und er atmete ein paarmal tief durch und versuchte, die Gedanken abzuschütteln. Es ist vorbei. Redete er sich ein. Vielleicht ist ja gut, dass Liz sich daran nicht mehr erinnern kann… Doch er erinnerte sich noch sehr genau… Er würde es niemals vergessen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 29, 2015 ⏰

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