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Kahnawake, Kanada, 14. April 1931

James saß auf dem Schindeldach der Blockhütte und war gerade dabei, einige undichte Stellen auszubessern, durch die immer wieder das Wasser tropfte. Er nahm eine weitere Holzschindel und hämmerte sie mit sicheren Schlägen an der richtigen Stelle fest. Der letzte Schnee war noch nicht sehr lange geschmolzen, doch um die Mittagszeit brannte die Sonne bereits erbarmungslos vom Himmel und er schwitze, obwohl er nur ein Hemd trug. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und griff nach einer weiteren Schindel, als Kitty, seine jüngere Schwester aufgeregt mit einem Papier wedelnd auf ihn zugelaufen kam. "Komm runter! Du hast ein Telegramm von Sam!" Er runzelte die Stirn. Wenn sein Bruder die Mühe auf sich genommen hatte, ein Telegramm aus dem Gefängnis zu schicken, dann musste es dringend sein. Normalerweise war es Gefängnisinsassen nicht möglich, er musste jemanden bestochen haben. Geschmeidig wie eine Raubkatze schwang sich James vom Dach herunter und landete sicher vor seiner Schwester auf den Füßen. Doch Kitty war es gewohnt und ließ sich davon schon lange nicht mehr beeindrucken. Sie hielt ihm das Papier unter die Nase und als er es auseinander faltete, reckte sie den Hals, um mitlesen zu können.

Bruder,

Liz lebt! Sie war hier. Kein Platz für lange Erklärungen. Sie ist bei Elias, dem Verräter! Du musst sie holen und nach Hause bringen! Dringend! Hier die Adresse:

Elias Goldman

94ste Str.

Bowery, NYC

Sam

James musste die kurze Nachricht mehrmals lesen, um ihren Sinn erfassen zu können. Herrgott, was war denn nun schon wieder vorgefallen? Zum Einen freute es ihn unglaublich, zu hören, dass Liz offenbar von den Toten auferstanden war, andererseits irritierte es ihn auch, dass Sam Elias als Verräter bezeichnete. Was hatte das alles zu bedeuten? Schnappte sein Bruder jetzt langsam über in diesem Käfig? Er schüttelte verständnislos den Kopf. Seine Schwester Kitty beugte sich noch dichter über das Telegramm und runzelte ebenfalls die Stirn. "Wer ist Elias? Und warum ist er ein Verräter?" James zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er noch ein Freund…" Kitty sah ihn durchdringend an. "Was auch immer das zu bedeuten hat, Sam hätte kein Telegramm geschickt, wenn es kein Notfall wäre. Du solltest dich sofort auf den Weg machen!" James seufzte resigniert. "Du hast wahrscheinlich recht, ich sollte ihm vertrauen, was das angeht. Er hat ja schließlich auch auf mich gehört, als ich ihm geschrieben habe… nur leider zu spät…" Kitty seufzte traurig und schüttelte den Kopf. "Du hast getan, was du konntest, es lässt sich nicht mehr ändern." James lachte bitter. "Ich habe gar nichts getan!" Kitty legte ihm die Hand auf die Schulter und blickte ihm beschwörend in die Augen. "Dann tue jetzt etwas!"

James hatte kurzerhand ein paar Sachen zusammengepackt und seine Schwester mit dem Auftrag zurückgelassen, die restliche Familie über seine Abreise zu informieren, sobald sie zurückkamen von der Arbeit. Er schulterte seine Tasche und schritt die breite, schlammige Hauptstraße des Reservats entlang in Richtung Ausgang. Er hatte auch etwas Verpflegung mitgenommen, doch nur für zwei Tage. Er wusste nur zu gut, wie leer der Vorratsschrank bereits war nach diesem Winter und wollte seiner Familie nicht mehr davon wegnehmen, als unbedingt notwendig. Es war ein langer Marsch durch das Reservat, über die Grenze, bis nach St. John's, wo die Bahnstrecke begann. Auf dem Weg durch die unbefestigten Straßen an den Geschäften vorbei bemerkte er erst gar nicht, dass jemand seinen Namen rief. Irgendwann legte ihm jemand eine Hand auf die Schulter und er drehte sich verwundert um. Vor ihm stand einer der Dorfältesten, Joseph Grant, der bei den meisten Mitgliedern des Stammes beliebt war und oft um Rat aufgesucht wurde. James grüßte freundlich und Joe strahlte ihm durch seinen langen Vorhang aus weißem Haar gut gelaunt entgegen. Er grinste und entblößte dabei einige wenige, ziemlich braune Zähne. "Schon wieder auf dem Weg nach Boston? Du hast dich ja gar nicht verabschiedet." James schüttelte den Kopf. "Nein, ich fahre nach New York." Joe nickte. "Gehst du Sam besuchen? Dann richte ihm Grüße aus, dem Armen." Er schüttelte mitleidig den Kopf. James seufzte. "Setzt dich doch kurz mit mir, dann erzähle ich es dir."

Joe zog eine Augenbraue hoch, doch er setzte sich mit James auf eine Bank am Wegrand und lauschte aufmerksam, während James ihm von der merkwürdigen Nachricht seines Bruders erzählte. "… Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein Irrtum war und Liz noch lebt, oder ob Sam einfach verrückt geworden ist. Ich meine, wer könnte es ihm verübeln? Aber ich habe keine Lust mit Pauken und Trompeten bei Elias das Haus zu stürmen und dann stellt sich heraus, dass alles Quatsch ist…" Joe blickte eine Weile ins Leere und runzelte die Stirn. Er grübelte, James tat es ihm nach. "Und dennoch bist du auf dem Weg nach New York… Oder etwa nicht?" James nickte kapitulierend. "Natürlich! Ich kann meinen Bruder ja nicht so einfach im Stich lassen. Aber…" Joe hob ruhig die Hand und James verstummte augenblicklich. "Ich denke…" Begann er. "Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir Menschen mit unserem Verstand nicht immer begreifen können. Und es gibt Menschen, die gehören ganz einfach zusammen, auch über den Tod hinaus, oder über mehrere Leben, wenn du so willst, und egal, wie oft sie sich verlieren, ihre Seelen finden immer wieder den Weg zueinander, ob in dieser oder der anderen Welt." James seufzte ergeben über so viel geballte Weisheit. "Meinst du die beiden sind so ein Paar?" Um Joes Augen bildeten sich kleine Lachfältchen "Möglich…" Bei dem geheimnisvollen Ton des alten Mannes musste James lachen. "Denkst du, ich finde auch einmal so jemanden?" Er versuchte, es so unbekümmert wie möglich klingen zu lassen, konnte jedoch die Bitterkeit in seinem Tonfall nicht ganz verbergen. Der alte beugte sich verschwörerisch zu ihm herüber und flüsterte nur "Möglich…" Dann zwinkerte er James zu, stand auf und schlenderte seelenruhig die Straße hinab und ließ James mit seinen Gedanken allein.

Nach einer Weile gab er das Grübeln auf, schulterte seine Tasche und machte sich auf den Weg. Während des langen Marschs nach St. John machte er sich immer wieder Gedanken um seinen Bruder und überlegte, ob er nicht vielleicht zuerst nach Sing Sing fahren und mit ihm sprechen sollte, bevor er Elias einen Besuch abstattete. Nur um sicherzugehen. Er wanderte den schmalen, schlammigen Pfad entlang und betrachtete immer noch grübelnd die Gegend. An einigen Stellen unter den riesigen Kiefern lag noch Schnee, dort wo die Sonne nicht hinkam. An anderen Stellen war der Schnee bereits vollständig geschmolzen und matschiges, braunes Erdreich kam darunter zum Vorschein. Es war jetzt Vormittag und allmählich verzogen sich die grauen Wolken und die Strahlen begannen allmählich, wieder zu wärmen. Er schloss im Gehen einen Moment die Augen und streckte sein Gesicht zur Sonne, er genoss die Wärme auf seiner Haut nach dem langen, eisigen Winter. Man hörte nun auch hin und wieder die ersten Vögel aus ihrer Winterstarre erwachen und manchmal wurde er nachts wach, weil das Eis auf dem Fluss laut krachte und zerbarst. Er liebte den Frühling und konnte es kaum erwarten, wieder in luftigen Höhen den süßen Duft der Bäume in der Nase zu haben.

Als es zu dämmern begann, machte sich James ein kleines Lager im Wald und schlief neben dem Feuer, um die Tiere auf Abstand zu halten. Er hatte sich in seinem Schlafsack eingerollt und betrachtete die unzähligen Sterne, während er in der Ferne einige Wölfe heulen hörte. Und wie jedes Jahr, wenn er sich auf den Weg in die Zivilisation begab, schlief er mit demselben Gedanken ein. Er würde das alles vermissen.

I see fireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt