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Ich erwachte, weil mir etwas in den Rücken stieß. Ich lag auf der Seite und drehte vorsichtig meinen Kopf, um über meine Schulter zu blicken. Direkt hinter mir lag Sam, der Länge nach dicht an mich gedrückt und hielt mich in seinen muskulösen Armen fest umklammert. Ich würde hier im Leben nie alleine herauskommen und hatte es auch eigentlich nicht vor, doch was war das in meinem Rücken? Es störte mich erheblich und ich langte mit der Hand hinter mich, um der Sache auf den Grund zu gehen. Ich fand das Objekt und erstarrte. Es war durch den Stoff seiner Hose deutlich zu spüren. Er bewegte sich im Schlaf. Verflucht, er hatte es gemerkt! Himmel, hilf! Ich muss hier weg, bevor er aufwacht! Doch es war zu spät, er war wach und hatte sich auf den Rücken gedreht. Einen Moment betrachtete er verwundert und verschlafen den Gegenstand meiner Nervosität der jetzt aufrecht zur Decke zeigte. Es dauerte einige Sekunden, bis er richtig sehen konnte, dann wurde er schlagartig feuerrot. So eilig hatte ich noch nie jemanden aus dem Bett springen sehen und obwohl mir die Situation auch unangenehm war, konnte ich nicht verhindern, dass ich ganz, ganz schrecklich lachen musste. Es sah einfach zu komisch aus, wie er Richtung Badezimmer davongejagt war, sein bestes Stück mit seinem Hemd bedeckt. Oh, Gott! Ich dachte ich müsste sterben vor Lachen, ich bekam keine Luft mehr und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Meine Güte, was für ein Mann! Wenn ich mit ihm zusammenblieb, würde ich wahrscheinlich irgendwann an einem Schluckauf sterben, weil ich ständig lachen musste. Manchmal machte er es mit Absicht, das wusste ich, doch das liebte ich so an ihm, dass er sich bereitwillig mehrmals am Tag zum Volltrottel machte, nur um mich zum Lachen zu bringen. Nun, diese Situation war gar nicht geplant, doch dadurch umso lustiger. Ich hatte meine Scheu überwunden und rollte mich auf der Matratze herum vor Lachen. Irgendwann musste ich aufhören, um zu atmen. Ich kämpfte mich hoch, immer noch um Atem ringend, und sah auf die Uhr an der Wand. Es war erst 5 Uhr, wir hatten noch Zeit für Kaffee und Frühstück. Tante Milly hatte gestern Abend noch darauf bestanden, für Sam einiges an Verpflegung einzupacken. Ich ging in die Küche und griff nach den verpackten Lebensmitteln auf dem Tisch, immer noch breit grinsend. Ich trug die Verpflegung ins Schlafzimmer und packte alles in seine Tasche, ich wollte auf keinen Fall, dass er es vergaß, oder ablehnte. Dann machte ich mich daran, Kaffee zu kochen. Ich hatte mich eigentlich schon wieder einigermaßen unter Kontrolle gebracht, doch als er verschämt um die Ecke geschlichen kam, konnte ich nicht verhindern, dass ich wieder kicherte wie eine Geisteskranke. Er schämte sich wirklich und knurrte ungehalten, weil ich lachte, doch es war einfach zu komisch. Ich nahm ihn tröstend in den Arm und küsste ihn sanft auf den Mund, doch dabei musste ich immer noch grinsen. " Ja, ja… Mach dich nur lustig über mich…" Grummelte er schlecht gelaunt. Immer noch schmunzelnd stellte ich ihm einen dampfenden Becher Kaffee vor die Nase und setzte mich ihm gegenüber. Minnie, der dickliche, kleine Hund meiner Tante, kam verschlafen aus dem Wohnzimmer getrottet und ließ sich schwer auf die Küchenfliesen plumpsen. Obwohl es schon Anfang September war, machte das Wetter überhaupt keine Anstalten, sich abzukühlen. Die Sonne ging gerade erst auf, doch der glasklare, azurblaue Himmel ließ keinen Zweifel daran, dass es auch heute wieder brütend heiß werden würde. Ich seufzte gedankenversunken, als ich den wolkenlosen Himmel betrachtete. "Vielleicht hast du Glück und es ist etwas kühler in Boston." Sagte ich abwesend. Er zuckte die Achseln. "Eigentlich macht es mir nicht so viel aus. Obwohl ich es auch lieber mag, wenn es etwas kühler ist." Ich richtete meinen Blick wieder auf ihn. "Wie sind denn die Sommer in… ähh…" "Kahnawake heißt es. Es ist deutlich kühler, obwohl wir auch heiße Tage haben und baden gehen können, aber die Luft ist frischer, es ist windiger. Das macht es um Einiges angenehmer." Ich seufzte erneut. "Das hört sich gut an…" Er beugte sich über den Tisch und nahm meine Hand. "Du wirst es sehen, ich nehme dich mit und zeige dir alles. Dann lernst du meine Familie kennen." Ich lächelte verträumt in mich hinein. Der Gedanke daran war schön und gleichzeitig beängstigend. Ich wollte seine Mutter kennenlernen, doch gleichzeitig hatte ich auch ein wenig Bammel davor. Würde sie mich mögen? Wir saßen immer noch schweigend am Tisch, als kurze Zeit später Tante Milly im Morgenmantel in die Küche gehuscht kam und sich ebenfalls einen Becher Kaffee nahm. Doch sie setzte sich nicht zu uns, sondern begann bereits hektisch mit den letzten Vorbereitungen für Sams Abreise. Ich wusste, ich sollte aufstehen und ihr helfen, doch ich war wie gelähmt und auch Sam konnte sich nicht von mir lösen. Wir blickten uns tief in die Augen, den Blick erfüllt von Sehnsucht und Liebe zugleich. Die Zeit stand für einen Moment still.

Doch irgendwann mussten wir uns erheben, wieder in die Gegenwart zurückkehren. Wie in Trance ging Sam ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Ich blieb unschlüssig in der Küche stehen und blickte ihm nach. Er drehte sich im Gehen immer wieder zu mir um. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, folgte ich ihm und hoffte mich irgendwie nützlich machen zu können. Doch dann stand ich doch nur wieder nutzlos in der Gegend herum. Als er sich angezogen hatte, wandte er sich zu mir um und sah es. Er lächelte liebevoll und kam auf mich zu. Ich stürzte vor und warf mich ihm direkt in die Arme. Ich wollte nicht weinen, ich kämpfte dagegen an, konnte nicht atmen, so angestrengt versuchte ich, meine Tränen zu unterdrücken. Er hielt mich einfach nur fest, unerschütterlich wie ein Berg. "Wir sehen uns wieder, ich habe es dir doch versprochen." Flüsterte er mir ins Ohr und strich mir eine Locke aus der Stirn. Ich sah ihm durchdringend in die großen, sanften, braunen Augen. "Wehe nicht!" sagte ich entschlossen und er musste grinsen. Dann ging ich auf die Zehenspitzen und küsste ihn stürmisch. Tante Milly kam ins Schlafzimmer geeilt und warf im Vorbeirennen einige kleine Gegenstände in die offene Reisetasche auf dem Bett. Ich beugte mich vor und sah, dass es sich um einen etwas abgenutzten Kamm, ein Rasiermesser und einen kleinen Klappspiegel handelte. Sie dachte aber auch wirklich an alles. Wir hatten Sam auch ein paar alte Kleidungsstücke meines Vaters überlassen sowie Briefpapier und Briefmarken.

Auf dem Fußmarsch zur Grand Central war ich völlig still. Auch in meinem Inneren rührte sich nichts, ich schritt durch die Straßen wie durch einen dichten Nebel, der alles um mich herum verschluckte. Nur Sams große, warme Hand verhinderte, dass ich mich in dem Nebel auflöste. Er war mein Anker, der mich in der Gegenwart festhielt. Was würde ich nur tun, wenn er fort war? Reiß dich zusammen, Liz! Es ist doch nicht für immer! Ich schüttelte heftig den Kopf, um wieder in die Realität zurückzufinden und allmählich lichtete sich der Nebel in meinem Kopf. Ich richtete mich auf, drückte den Rücken durch, hob den Kopf und sah entschlossen nach vorn in unsere Zukunft. Ich würde nicht zu Hause hocken und heulen wie ein kleines Mädchen. Ich musste eine neue Arbeit finden und mein Leben wieder in den Griff bekommen. Ich straffte die Schultern und beschleunigte meinen Gang ein wenig. Sam sah mich verwundert von der Seite an. Ich blickte ihm entschlossen in die Augen und sagte "Ich werde nicht heulen!" Das brachte ihn zum Lachen. "Dann muss ich mich wohl auch zusammenreißen." Scherzte er. Wir erreichten den Bahnhof, die große Uhr in der Eingangshalle zeigte, dass wir noch 10 Minuten Zeit hatten, doch der Zug stand schon im Bahnhof, also gingen wir durch die langen Gänge zum Gleis. Auf dem Bahnsteig angekommen, betrat Sam den Zug und suchte sich ein Abteil, in dem er seine Tasche abstellte. Dann kam er wieder zur Tür. Er verabschiedete sich erst förmlich von Tante Milly, die ihn jedoch völlig überrumpelte, als sie ihn schniefend an seine Brust drückte. Ich kämpfte immer noch um Selbstbeherrschung, mittlerweile atmete ich deutlich schwerer. Als er sich von Tante Milly befreit hatte, schlang Sam seine langen, kräftigen Arme um mich. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und atmete noch einmal ganz tief seinen Duft ein. Den wollte ich in Erinnerung behalten. Dann küssten wir uns lang und leidenschaftlich, wobei er sich zwar freundlicherweise etwas zu mir hinunter beugte, doch ich stand immer noch auf Zehenspitzen, die Arme um seinen Hals. Er streckte den Rücken durch und hob mich so mühelos vom Boden hoch. Meine Füße schwebten ein paar Zentimeter in der Luft. Die Zeit stand erneut still und wir kümmerten uns weder um die Blicke der Leute, noch um das Pfeifen und die Rufe des Schaffners. Irgendwann zog Tante Milly Sam am Arm und schubste ihn genau in der Sekunde durch die Tür, in der sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Der monströse Stahlkoloss kam langsam ins Rollen, doch Sam stand immer noch in der Tür und hielt meine Hand. Ich rannte noch ein Stück mit über den Bahnsteig, bis der Zug zu schnell wurde und ich seine Hand verlor. Ich rannte trotzdem weiter, bis der Bahnhof zu Ende war. Dann musste ich stehen bleiben. Sam lehnte sich gefährlich weit aus der Tür und winkte mir hinterher und ich ihm. Ich wandte mich erst ab, als der Zug um eine Kurve verschwand und nicht mehr zu sehen war. Tante Milly hatte mich jetzt eingeholt und legte mir vertraulich den Arm um die Schultern, wobei sie sich auf Zehenspitzen stellen musste. "Komm, Kleines. Lass uns frühstücken gehen. Du hast noch Zeit bis zu deinem Vorstellungsgespräch." Richtig, die Stelle im Altenheim. Ich hatte gestern mit dem Direktor telefoniert und er hatte mich für heute Vormittag um 10 zu sich ins Büro eingeladen. Etwas niedergeschlagen folgte ich Tante Milly über den Bahnsteig und zum Ausgang. Wir fanden nicht weit vom Bahnhof entfernt ein kleines Café, das bereits geöffnet hatte. Wir suchten uns einen kleinen Tisch in der Ecke und bestellten Kaffee und Frühstück.

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