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New York City, 31. Oktober 1930
Solange er noch nicht selbst arbeiten musste, hatte Sam es sich zur Gewohnheit gemacht, Liz nach Ende ihrer Schicht vor dem Eingangstor des Altenheims abzuholen und nach Hause zu begleiten. Es war ein weiter Weg vom Heim bis nach Soho und ihm wäre nicht wohl dabei gewesen, sie nachts allein gehen zu lassen. Sie wiederum genoss die Ungestörtheit, wenn sie Arm in Arm durch die Straßen schlenderten. Sie unterhielten sich normalerweise den ganzen Weg entlang angeregt über ihre Arbeit oder die Ereignisse des Tages und er sehnte sich danach, endlich wieder den kalten Stahl unter seinen nackten Füßen zu spüren und den kühlen Wind in seinem Gesicht, wenn er in schwindelerregender Höhe am Gerüst hing. Sein Bruder James war eine Woche nach ihrer Ankunft doch nach Hause aufgebrochen. Wahrscheinlich war es ihm unangenehm, den ganzen Winter hindurch bei Fremden auf dem Sofa zu schlafen. Und er hatte es tatsächlich noch geschafft, eine Bahnfahrt nach Montreal zu buchen, bevor die endlosen Regenfälle den Weg unpassierbar machten. Sam hatte einige Tage nach seinem Aufbruch einen Brief erhalten, in dem James schrieb, dass er, trotz einiger Schwierigkeiten, heil zu Hause angekommen war. Er schickte auch Grüße von seiner Mutter und seinen Schwestern, die darum baten, unbedingt bald Liz kennenlernen zu dürfen. Er konnte sich genau denken, warum. Er stand jetzt am Tor des Altenheims und wartete, er war ein bisschen zu früh. Doch als er sie an diesem Abend wie üblich mit einem zärtlichen Kuss begrüßte, wirkte sie bedrückt. Sie wich seinem Blick aus, doch er nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah ihr tief in die Augen. "Was ist denn, mein Herz?" Sie seufzte schwer "Ach, es ist nichts, ich hatte nur einen anstrengenden Tag." Sie wollte schon loslaufen, doch er blieb stehen und hielt sie an der Hand, sodass sie nicht weiter kam. Seufzend blieb sie stehen und wandte sich wieder zu ihm um. Er hielt ihre Hand immer noch, zog sie wieder an sich heran. Als wäre ein Damm gebrochen, fiel sie in seine Arme und begann zu schluchzen. Das Geräusch verursachte ihm fast körperliche Schmerzen. Er umarmte sie so fest, wie er konnte, und legte seine Wange auf ihren Scheitel. So standen sie eine Weile, ohne ein Wort zu sagen, bis Liz sich wieder etwas beruhigt hatte. Sie löste sich ein wenig von ihm, um ihm in die Augen schauen zu können. Er blickte in ihre rot geränderten Augen, das Gesicht immer noch feucht von Tränen. Er hob die Hand und wischte ihr eine von der Wange. "Was ist passiert?" fragte er ruhig. Sie schluckte und atmete tief durch "Können wir laufen, während wir reden?" Er nickte und nahm wieder ihre Hand. Die ersten zwei Blocks liefen sie schweigend, bis Liz sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Dann begann sie, zu erzählen...
Ich war so unglaublich wütend! Und fassungslos. Sprachlos über so viel Dummheit! Das Gerede hatte schon am ersten Tag begonnen, als Sam mich abends vom Altenheim abholte. Erst hatten nur die Kollegen angefangen, zu tuscheln, irgendwann auch die Patienten. Ich hatte dem keine Bedeutung beigemessen, schließlich hatten wir ja mit etwas Ähnlichem gerechnet. Doch es hatte innerhalb von wenigen Tagen dramatische Ausmaße angenommen. Die anderen Schwestern schnitten mich, sprachen nur das Nötigste mit mir. Die Ärzte ignorierten mich vollkommen. Dann fingen die Patienten an, sich mir zu verweigern. Sie wollten sich von mir nicht mehr beim Waschen oder beim Aufstehen helfen lassen. Einige weigerten sich sogar, von mir die Mahlzeiten gereicht zu bekommen. Es dauerte nicht lange, bis auch der Direktor, ein dicker, alter, schwitzender, glatzköpfiger Feigling, davon Wind bekam. Er hatte mich heute in sein Büro bestellt und mir mitgeteilt, dass es ihm sehr leid tat (ganz bestimmt!), dass er mir aber leider mitteilen müsse, dass mein "ausschweifendes Privatleben", wie er es nannte, zwar meine Angelegenheit sei, dass er aber nicht tatenlos dabei zusehen konnte, wie sich meine "Freizeitbeschäftigung" negativ auf meine Arbeit auswirkte. Er behauptete, ich wäre bei der Arbeit nicht bei der Sache und hätte in der letzten Zeit zu viele Fehler gemacht. "Und welche?" fragte ich, angestrengt um einen höflichen Ton bemüht. Er räusperte sich verlegen und sich konnte sehen, wie er nach der richtigen Formulierung suchte. "Nun, Miss. Mir ist zugetragen worden, dass sie ihre Arbeit allgemein nur halbherzig verrichten und sich einige Fahrlässigkeiten erlaubt haben." Ich sprang so abrupt von meinem Stuhl auf, dass er polternd nach hinten umfiel. "Wissen Sie, wenn es Ihnen nicht passt, dass mein Verlobter ein Mohawk ist, dann haben sie wenigstens den Mumm und nennen das Kind beim Namen, Sie Feigling!" Ich hatte einfach behauptet, mit Sam verlobt zu sein. Eigentlich spielte es keine Rolle, denn er wurde augenblicklich tiefrot, jetzt sprang er seinerseits von seinem Schreibtisch auf und baute sich bedrohlich vor mir auf. "Verlobter? Pah! Sie sind ein billiges Flittchen, das ist alles! Der heilige Bund der Ehe ist diesen Wilden doch genauso fremd wie Lesen und Schreiben! So jemanden kann man nicht heiraten!" Er atmete tief durch, ich war völlig fassungslos über diesen Ausbruch. Etwas ruhiger fuhr er fort "Im Prinzip braucht es mich ja nicht zu kümmern, sie sind gekündigt." Ich rang immer noch nach Worten, doch ich war so wütend, dass mir einfach nichts darauf einfiel. Ich hatte die Hände zu Fäusten geballt und zitterte am ganzen Körper, so sehr schäumte ich vor Wut. Ich riss mir (schon wieder!) mein Schwesternhäubchen vom Kopf und klatschte es unsanft auf seinen Schreibtisch, dann trat ich einen Schritt vor und spuckte ihm mitten ins Gesicht. Noch bevor er reagieren konnte, war ich schon laut polternd aus dem Büro gestürmt. Ich rannte die Gänge entlang, die Treppe hinunter, wollte nur noch raus.
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I see fire
Romance... Als ich vorsichtig den Kopf in die Dunkelheit streckte, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten und ich etwas erkennen konnte. Ich machte ein, zwei Schritte in die Gasse hinein und sah mich um. I...