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An Miss Elisabeth O'Connell                  04.09.1930

z. H. Mrs. Mildred O'Connell

94st Straße, Soho

Manhattan, New York City

Meine liebe Liz,

wie du dem Datum entnehmen kannst, habe ich diesen Brief sofort nach meiner Ankunft in Boston geschrieben. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, mir könnte auf der Reise etwas zustoßen und weil der Brief sowieso einige Tage braucht, bis er dich erreicht, wollte ich dich nicht noch länger bangen lassen. Ich bin jetzt im Quartier meines Bruders und es geht mir gut. Ihm übrigens auch. Die Reise war recht langweilig, aber mit etwa sechs Stunden nicht allzu lang. Ich habe mir die Zeit damit vertrieben, an dich zu denken. An alles, worüber wir gesprochen haben, an dein bezauberndes Gesicht und dein Lachen, von dem ich nicht genug bekommen kann. Richte deiner Tante doch bitte meinen Dank für die ausgezeichnete Verpflegung aus, mein Bruder lässt grüßen und meint, es könnte für uns beide zwei Tage reichen. Er ist neidisch, weil er jeden Morgen vor Sonnenaufgang zur Arbeit muss und ich jetzt erstmal ausschlafen kann. Doch ich bin schon wieder voller Eifer und kann es kaum erwarten, endlich auch wieder in schwindelerregender Höhe durch die Stahlgerüste zu klettern.

Ich hoffe, es geht euch beiden gut. Ich vermisse dich jetzt schon so sehr, dass ich manchmal denke, mein Herz zerspringt. Doch ich halte tapfer den Kopf hoch und freue mich schon jetzt auf unser Wiedersehen. Bis dahin schicke ich dir mit jedem Brief 1000 Küsse (wenn du noch mehr brauchst, sage mir Bescheid!).

Dein liebeskranker Verrückter

Ich musste schmunzeln über seinen ersten Brief und schüttelte verständnislos den Kopf. Was haben diese Indianer immer mit diesen todesverachtenden Höhen? Mir wurde schon bei dem bloßen Gedanken daran schlecht. Seit er abgefahren war, war ich jeden Tag nach der Arbeit eilig nach Hause gelaufen, um in den Briefkasten zu sehen. Vier Tage nach seiner Abreise kam er dann und obwohl kein Absender darauf war, wusste ich sofort, von wem er kam. Seine Handschrift war leicht nach rechts geneigt, die kleinen Buchstaben kunstvoll geschwungen. Sie gefielen mir auf Anhieb. Nicht zu vergleichen mit meiner verschmierten, krakeligen Linkshänder-Schrift. Ich hatte den Brief schon unten aufgerissen und das erste Mal durchgelesen, noch bevor ich überhaupt die Treppe hinauf gegangen war. Oben im vierten Stock angekommen, hatte ich ihn bereits zum zweiten Mal gelesen und begann, mir eine Antwort zu überlegen. Völlig vertieft in seine elegante Handschrift ließ ich die andere Post auf die Kommode im Flur fallen, streifte die Schuhe mit den Füßen ab und setzte mich direkt im Wohnzimmer an den Schreibtisch. Minnie kam angelaufen und schnüffelte mir am Bein, während ich mir Briefpapier und einen Stift zurechtlegte. Ich hörte Tante Millys irritierte Stimme aus der Küche. "Lizzy? Bist du das?" Hoppla, ich hatte ihr gar nicht Bescheid gesagt, dass ich da war. "Ja, Tantchen!" Sie kam zum Wohnzimmer und blieb im Türrahmen stehen, ihr Blick fiel auf den Brief in meiner Hand und sie strahlte. "Hat er geschrieben?" Ich nickte eifrig. Sie kam neugierig näher und wollte einen Blick darauf werfen. Ich versteckte den Brief rasch hinterm Rücken und stammelte "Äähh… er lässt grüßen und dankt dir für die Verpflegung." Milly hielt abrupt inne und bekam wieder diesen schelmischen Ausdruck in den Augen. "Also schön… Aber bevor du ihm antwortest, komm doch erstmal Essen ja?" Ich seufzte ergeben, denn mein Magen beschwerte sich auch schon. "In Ordnung." Ich ließ den Brief auf dem Schreibtisch liegen und folgte ihr in die Küche. Ich setzte mich hastig an den Küchentisch, schaufelte den ganzen Teller in mich hinein, ohne darauf zu achten, was ich eigentlich aß. Tante Milly beobachtete mich kopfschüttelnd über die Tischplatte hinweg. Als ich fertig war, eilte ich sofort wieder zurück an den Schreibtisch und begann meinen Brief.

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