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New York City, 6. Dezember 1930

In den letzten Tagen war es im Viertel auffällig ruhig gewesen und Sam war ein wenig erleichtert, als er am späten Nachmittag den Heimweg antrat. Er beugte sich gegen den kräftigen Wind, kniff die Augen zusammen zum Schutz vor den peitschenden Schneeflocken. Die Leute mieden sie zwar wie die Pest, doch offenbar schien niemand auf Rache aus zu sein. Er hatte zwar gehofft, dass sich der Vorfall nicht bis nach Soho herumsprechen würde, doch eigentlich machte er sich keine Illusionen über das Zerstörungspotenzial, das durch die Masse freigesetzt werden konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Geschichte wie ein Lauffeuer über Manhattan ausbreitete und er betete inständig, dass sie dann nicht mehr in der Stadt waren. Bleib ruhig, Sam. Es sind nur noch drei Tage. Heute war Donnerstag, am Montag ging der Express nach Albany, dort mussten sie umsteigen in den Zug nach Rutland, dann weiter bis nach Burlington und, wenn sie Glück hatten, sogar bis Montreal. Doch wenn er sich das Wetter in New York vor Augen hielt, so würde es von Burlington aus wahrscheinlich schon keinen Zugverkehr mehr nach Norden geben. Sam war schwer beladen mit Lebensmitteln und anderen nützlichen Dingen, er hatte darauf bestanden, die am Montag verlorenen Einkäufe zu ersetzen und ebenso, dass die beiden Frauen sicher und warm zuhause blieben, während er sich durch den ohrenbetäubenden Schneesturm vorankämpfte. Selbst der Hund wollte bei dieser Kälte nicht vor die Tür, also war er allein gegangen und hatte viel länger als üblich gebraucht, auch weil er Geschäfte weit außerhalb ihres Viertels aufsuchen musste, wo man ihn oder Liz nicht kannte. Als er jetzt wieder nach Soho kam, war es bereits stockdunkel, doch es musste erst etwa 18 Uhr sein. Der Himmel war schwarz und weiß gefleckt und er konnte kaum weiter sehen, als sein Arm lang war. Die Schneeverwehungen am Wegrand reichten selbst ihm jetzt bis zu den Knien und er hatte schon seit Stunden nasse Füße. Als er nur noch zwei Querstraßen entfernt war, sah er einen rötlich-orangen Lichtschein am Horizont, oder besser gesagt über die Hausdächer hinweg. War die Sonne doch noch nicht untergegangen? Bestand der Schneesturm vielleicht nur aus einer großen Wolke, die dort hinten schon vorübergezogen war? Er schritt neugierig weiter in diese Richtung, in die er sowieso musste und starrte angestrengt auf das merkwürdige Phänomen am Ende der Straße.

Plötzlich drehte der Wind und trug ihm unvermittelt den starken, beißenden Geruch von Rauch entgegen, sodass er augenblicklich erstarrte. Hatte er sich das eingebildet? Nein, das war eindeutig der Geruch von brennendem Holz, sehr viel brennendem Holz. Sein Puls beschleunigte sich rasant, sein Gehirn versuchte noch, ihn zu beruhigen, doch die Vernunft war nur noch eine leise Stimme in seinem Hinterkopf, die das unerbittliche Hämmern seines Herzens nicht mehr übertönen konnte. Ohne es wirklich zu merken, wurde er immer schneller, er hielt die Taschen zwar fest umklammert, doch seine Schritte wurden immer länger, bis er irgendwann rannte. Umso näher er kam, desto stärker wurde der Qualmgeruch und als er nur noch einen Block entfernt war, tränten ihm bereits die Augen. Es wurde merklich wärmer, hier fiel kein Schnee mehr vom Himmel, sondern Asche. Sam betete immer noch, dass es ein anderes Haus war, obwohl er eigentlich schon erkennen konnte, dass es das Haus war, in dem sie wohnten. Er bog um die letzte Ecke und bremste so abrupt ab, dass er auf dem halb geschmolzenen Schnee ausrutschte und im Dreck landete, etwa 50 Meter entfernt vom Brand. Er blickte ängstlich an dem Haus empor und die Hitze schlug ihm ins Gesicht. Aus allen Fenstern drang dicker, schwarzer, stinkender Rauch, man konnte kaum noch atmen, so sehr schmerzte es. In den Wohnungen sah man deutlich den flackernden Feuerschein, doch bisher hatte es nur die unteren zwei Stockwerke befallen, in den oberen Etagen war alles dunkel. Vor dem Haus auf der Straße stand eine Menschentraube, alles schrie und lief aufgeregt durcheinander. Einige Leute versuchten offenbar, das Feuer zu löschen, sie trugen Eimer und Wasserschalen. Andere wiederum versuchten, sie daran zu hindern, sie schlugen den Leuten die Eimer aus den Händen und warfen immer mehr brennende Dinge durch die zerstörten Fenster. Sam blickte sich panisch in der Menge um, konnte aber Liz oder Milly nirgendwo entdecken. Er erkannte ein paar Nachbarn, doch die meisten Leute waren ihm fremd. Plötzlich knallte etwas im Inneren des Hauses, die Scheiben im dritten Stock zerbarsten und eine gewaltige Stichflamme schoss, gefolgt von unzähligen Glassplittern, hinaus in die Nacht. Die Leute vor dem Haus schrien erschrocken auf und wichen zurück. Jetzt hatte das Feuer also die dritte Etage erreicht, denn auch dort war jetzt ein unheilvoller roter Schimmer zu sehen. Er musste etwas tun. In der Menge, etwas am Rand, erkannte er die junge Mrs. Murray mit ihren kleinen Kindern, alle dicht an sich gedrückt. Er sprach sie an. Sie drehte sich überrascht zu ihm um und als sie ihn erkannte, begann sie, aufgeregt auf ihn einzureden. "Sie müssen hier verschwinden, die Leute sind wirklich wütend, die haben das Haus angezündet und wollen sie am nächsten Baum aufhängen! Die sagen, sie sind ein Mörder! Sie glauben, Sie sind da drin sind und warten, bis jemand aus dem Fenster springt, um…" Sam packte sie grob am Arm, um ihrem Redefluss Einhalt zu gebieten. "Wo sind Milly und Liz?" Sie sah ihn einige Augenblicke ungläubig an, als hätte er eine andere Sprache gesprochen, dann traten Tränen in ihre Augen, sie schüttelte den Kopf und ihre Lippen formten stumm: "Ich weiß nicht!" Sam stellte die Einkäufe vor ihre Füße und bat sie, darauf aufzupassen, sie nickte. Er wollte sich gerade wieder zum Haus umdrehen, als ihm der kleine, dicke, jetzt etwas geschwärzte Hund von Tante Milly entgegen gehoppelt kam. Das Tier begrüßte ihn sofort aufgeregt und er war froh, wenigstens einen wohlauf zu finden. Er ließ den Hund auch bei Mrs. Murray, dann fasste er einen Entschluss, er musste da rein! Er musste sie finden, er könnte nie wieder in den Spiegel sehen mit der Ungewissheit. ER MUSSTE HANDELN! Er zog seinen Mantel und Pullover aus, band sich hastig die Haare zusammen und durchtränkte sein Haar und seine Kleidung mit dem geschmolzenen Schnee, besser ging es jetzt nicht. Das nasse Hemd band er sich als Schutz vor dem Qualm vors Gesicht. Dann schritt er zielgerichtet auf den Hauseingang zu, quer durch die Menschenmassen, die immer noch heftig zankten und grölten. Als sie ihn erblickten, verstummten sie und starrten ihn an. Er musste furchteinflößend aussehen, ein zwei Meter großer, halbnackter, rußverschmierter, triefender, schwitzender Indianer. Und er schwitzte wirklich! Mit jedem Schritt wurde die Hitze unangenehmer, doch er musste weiter. Ein offenbar weniger eingeschüchterter Mann, den Sam nicht kannte, kam direkt auf ihn zu und brüllte ihm etwas Unverständliches entgegen, wobei er mit einer Fackel vor Sams Gesicht wedelte. Sam holte aus und verpasste ihm einen gezielten Faustschlag, direkt auf die Nase. Dann schritt er im Laufschritt weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.

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