12
Sam hing etwa auf Höhe der 16. Etage im Gerüst und war gerade dabei, einen weiteren Stahlträger zu befestigen, als ihn eine heftige Windböe fast von den Füßen riss. Genauso schnell, wie die Böe ihn getroffen hatte, war sie auch wieder verschwunden und er seufzte erleichtert. Er hatte gerade noch den Stahlträger vor seiner Nase umklammern können. Er kannte diese explosionsartig auftauchenden Windstöße nur zu gut. Sie waren lebensgefährlich, und sie kündigten das Ende der Bausaison an. Sein Herz machte einen kleinen freudigen Hüpfer bei diesem Gedanken, doch gleichzeitig zwang er sich zu mehr Vorsicht. Er wollte auf keinen Fall auf dieser Höhe das Gleichgewicht verlieren und nachher noch abstürzen. Es war kurz vor 15 Uhr, doch der Himmel war dicht bewölkt und fast schwarz. Es war innerhalb von wenigen Minuten beinahe vollständig dunkel geworden und Sam streckte die Nase in den Wind. Kein Zweifel, es würde in den nächsten Minuten zu regnen anfangen, er kannte den Geruch. Vielleicht wurde es auch ein Gewitter oder ein ausgewachsener Sturm. Ihm wurde ein wenig mulmig und er blickte nach unten. Sein kleiner Bruder James war in den unteren Stockwerken zugange, er sah ihn gerade so hinter einem Stahlträger. Er saß auf dem Boden des halbfertigen Stockwerks und vernagelte Bodendielen. Der Wind nahm immer mehr zu und Sam wurde immer unruhiger, warum pfiff dieser Vollidiot von Bauleiter die Leute nicht herunter? Der Wetterwechsel musste selbst ihm in seinem beheizten Bauwagen aufgefallen sein. Sam überlegte gerade, ob er auf eigene Verantwortung herunterkommen sollte, als der Kran sich erneut in Bewegung setzte und einen weiteren Stahlträger in die Höhe zog. Sam saß ganz oben, er musste mit einigen anderen Arbeitern den Stahlträger vorsichtig in seine Halterung manövrieren. Er bewegte sich leichtfüßig zur anderen Seite des Rohbaus herüber, balancierte in dieser todesverachtenden Höhe, immer darauf bedacht, nicht zu stolpern. Er erreichte das Ende und hielt sich mit einer Hand an einem Stützpfeiler fest, die andere Hand streckte er nach dem in der Luft schwebenden Stahlträger aus. Sechs andere taten es ihm gleich und zusammen mit dem Kran bewegten sie das tonnenschwere Ungetüm vorsichtig über die Stelle, an der es befestigt werden sollte. Es donnerte gedämpft in der Ferne und Sam konnte nicht verhindern, dass ihm einige Flüche auf Mohawk entwichen. Der Arbeiter neben ihm blickte überrascht auf. "Noch den einen, dann müssen wir runter." Knurrte Sam ihm zu. Der Andere blickte verunsichert, nickte aber. Sam war es egal, ob dieser cholerische, fette Sack ihn nachher anschrie deswegen, er würde nicht sein Leben riskieren für diesen geldgeilen Sack von Boss.
Dann passierte es, eine heftige Windböe brachte den Stahlträger am Kran ins Schwingen, er krachte gegen einen Stützpfeiler und riss drei Arbeiter mit sich, darunter den, der neben Sam gestanden hatte. Er hörte ihre Schreie, dann den dumpfen Aufprall und wagte nicht, nach unten zu sehen. Er war vor Schock wie gelähmt und klammerte sich an den Pfeiler. Der Stahlträger war jetzt völlig außer Kontrolle, krachte gegen das Gerüst, Panik brach aus, alle schrien wild durcheinander, rannten herum, versuchten sich in Sicherheit zu bringen. Sam duckte sich weg und wollte schon nach unten klettern, die Augen immer auf den wuselnden Ameisenhaufen unter ihm gerichtet, er suchte nach James. Da löste sich das Stahlseil und der schaukelnde Stahlträger krachte mit ohrenbetäubendem Lärm Etage für Etage durch den Rohbau, immer tiefer und mit jedem erneuten Aufprall betete Sam, das Ding würde endlich liegenbleiben. Noch drei Etagen, dann würde er seinen Bruder zerquetschen. Noch zwei… immer noch konnte der frisch verlegte Boden dem Gewicht nicht standhalten. Noch eine… es knirschte heftig und das Holz bog sich gefährlich… Dann sah er endlich James! Er sprang einfach aus der ersten Etage herunter und krachte auf den schmutzigen Erdboden, rappelte sich auf und rannte schnell aus der Gefahrenzone. Sam atmete auf, dann krachte es erneut und der Stahlträger zerstörte auch die unterste Etage. Gott sei Dank hatte das Monstrum keine tragenden Strukturen beschädigt, doch der Wind wurde immer heftiger und die ersten eisigen Tropfen trafen Sams Gesicht wie kleine Nadeln. Es donnerte heftig, bestimmt eine halbe Minute lang, dann durchzuckte der erste Blitz den pechschwarzen Himmel. Die Arbeiter unten riefen aufgeregt durcheinander, der Bauleiter stand wild mit den Armen rudernd vor dem Gerüst und rief und gestikulierte seine Arbeiter nach unten. Jetzt musste er aber schnell machen, bevor auch noch ein verdammter Blitz das Gebäude traf. Flink rutschte und sprang Sam ein Stockwerk nach dem anderen tiefer, immer darauf bedacht, nicht auf die zerstörten Bodendielen zu treten, bis er endlich unten war. Er brachte es nicht fertig, nach den gefallenen Arbeitern zu sehen. Zu groß war die Furcht vor dem, was er vielleicht vorfinden würde. Niemand traute sich jetzt unter das Gerüst. Sie würden sie bergen, wenn das Unwetter vorüber war. Er entfernte sich ein paar Schritte, um erstmal durchzuatmen. Dann sah er James, der auf einem Stapel Holzdielen saß und das eine Bein merkwürdig von sich weg ausgestreckt hatte. Sam eilte zu ihm herüber und umarmte seinen Bruder ohne Worte. Auch James war erleichtert, seinen Bruder zu sehen. Sam setzte sich neben ihn und deutete auf seinen Fuß. "Was hast du da?" James zuckte die Achseln. "Halb so wild, bin umgeknickt bei meinem Hechtsprung eben." Dann sah er Sam einen Moment verzweifelt an und packte ganz unvermittelt seine Schultern "Gott, einen Moment dachte ich, du bist es, der da von oben herunter geschleudert wurde!" Sam zuckte die Achseln und blickte betrübt auf seine Füße. "Es war einfach Glück, dass ich am Rand stand, hätte ich weiter in der Mitte gestanden, hätte mich das Ding auch erwischt." Die Arbeiter beruhigten sich allmählich wieder und an die Stelle der eben herrschenden Panik trat nun betretenes Schweigen. Einige bekreuzigten sich und sprachen ein Gebet, andere starrten einfach vor sich hin. Der Boss lief durch die Menge und sprach beruhigend auf die Männer ein. Immer mehr schlichen bedrückt vom Gelände. Es regnete jetzt heftig und in kürzester Zeit hatte sich der Boden um die Baustelle in einen Sumpf aus Schlamm und Pfützen verwandelt. Nach einer Weile kam der Boss auch bei ihnen an. "Alles in Ordnung? Jemand verletzt?" er deutete auf James' Fuß, dieser winkte ab. "Es geht schon, bin nur umgeknickt." Der Boss nickte kurz, wie zu sich selbst, dann wandte er sich an Sam. "Geht nach Hause, wir machen morgen erstmal eine Lagebesprechung, also habt ihr frei. Ich werde euch Bescheid sagen, wie es weiter geht." Sam nickte nur, stand auf legte sich den Arm seines Bruders über die Schulter. War der alte Geizhals doch endlich vernünftig geworden. Nach außen hin ließ Sam sich nichts anmerken, doch innerlich kochte er vor Zorn. Jedes Jahr dasselbe! Es mussten immer erst Leute abstürzen, bis die Bosse einsahen, dass es zu gefährlich wurde. Er stütze James auf dem Weg zu ihrem Quartier und kämpfte den ganzen Weg über mit seiner Wut. In ihrem Zimmer angekommen, ließen sie sich erschöpft auf die Betten fallen und schwiegen, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Der heutige Vorfall hatte ihnen wieder einmal bewusst gemacht, wie schnell alles zu Ende sein konnte. Sam sorgte sich um die Zukunft. Wenn es mit ihm und Liz wirklich ernst wurde, würde er sich eine andere Beschäftigung suchen! Er wollte ihr auf keinen Fall dasselbe Schicksal zumuten, wie es seine Mutter erleiden musste. Allein mit vier Kindern, der Mann vom Gerüst gestürzt. Nein! Er wusste von Anfang an, dass er ihr in finanzieller Hinsicht nicht viel bieten konnte, doch er musste ihr immerhin versprechen können, dass er sie nicht eines Tages völlig unvorbereitet im Stich ließ. Und auch wenn er wirklich gut war in dem, was er tat, es blieb immer eine gefährliche Arbeit. Auch die Besten unter ihnen konnten jederzeit abstürzen oder zerquetscht werden. Doch was sollte er stattdessen machen? Als Mohawk, ohne herausragende Schulbildung, in einem Reservat? Mit einem frustrierten Aufschrei schlug er sich die Hände vors Gesicht. James blickte zu ihm herüber und nickte betreten. "Ich weiß, ich weiß… Was sollen wir denn sonst tun?" Sam musste ein wenig schmunzeln. James hatte ihm geantwortet, als hätte er seine Gedanken gelesen. Das tat er öfter und Sam wusste bis heute nicht, ob es eine Art Begabung war, oder ob es daher kam, dass er und James ihr Leben lang sehr miteinander verbunden waren. Sie kannten sich in- und auswendig und oft hatte auch Sam das Gefühl, zu wissen, was sein Bruder dachte.
DU LIEST GERADE
I see fire
Romance... Als ich vorsichtig den Kopf in die Dunkelheit streckte, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten und ich etwas erkennen konnte. Ich machte ein, zwei Schritte in die Gasse hinein und sah mich um. I...