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Er hatte geträumt, konnte sich aber an keine Einzelheiten erinnern. Immer wieder waren verstörende, verzerrte Bilder vor seinem inneren Auge erschienen. Mal sah er seine Familie tot in der Gosse liegen, die leblosen, kalten Körper von einer dünnen Schicht aus Reif überzogen. Dann wieder änderte sich das Bild abrupt und er schwebte unter der Decke eines OP-Saals, sah sich selbst auf dem Tisch liegen, schlafend. Ein Arzt operierte und unterhielt sich dabei völlig entspannt mit einer Krankenschwester, die ihm die Instrumente reichte. Dann war er wieder in seinem Körper, lag auf dem Rücken, über ihm ein fremdes Gesicht, ein Mann mit schwarz gelocktem Haar und Bart. Er sagte etwas zu jemandem, den Sam nicht sehen konnte. Dann verschwand das Bild wieder...

Sam erwachte und fühlte sich das erste Mal seit Tagen ausgeruht. Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte und wollte sich noch nicht bewegen oder die Augen öffnen. Weiches, sauberes Leinen streifte seine Wange und schmiegte sich leicht wie eine Feder an seine Schultern. Er bewegte die Finger seiner rechten Hand, auf ihr lag auch glatter, kühler Stoff, jetzt spürte er das schwache Gewicht der dünnen Decke. Sie bedeckte ihn bis zu den Schultern. Er genoss das herrliche Gefühl und wollte bis an sein Lebensende hier verweilen. Genießerisch wandte er den Kopf zur anderen Seite und schmiegte sich an das nach Waschmittel duftende Kissen. Die meisten Leute rümpften die Nase vor dem scharfen, beißenden Aroma, das die Waschlauge hinterließ, doch er liebte den Geruch. Weit entfernt hörte er Geschirr klappern, Wasser fließen und Stühle, die verrückt wurden. Jemand war in der Küche und kochte. Diese vertrauten Geräusche ließen ihn wieder an seine Mutter denken. Er war als Kind oft morgens erwacht, weil er hörte, wie sie in der Küche das Frühstück bereitete. Das sanfte Schaben des Holzlöffels am Boden des großen Kochtopfes. Die tiefe, raue Stimme seines Vaters, der sich schnell ein Brot auf den Weg mitnahm. Einen Moment glaubte er, wieder Kind zu sein, wieder Zuhause, als sein Vater noch lebte und ihre kleine Welt noch in Ordnung war. Doch dann vernahm er aus dieser Küche, in der Gegenwart, eine ihm unbekannte Stimme. Es war eine Frauenstimme, älter schon. Sie sprach gedämpft. Dann eine zweite, jüngere Frauenstimme. Diese jedoch kam ihm bekannt vor. Er überlegte angestrengt. Nach einer Weile fiel der Groschen; Liz! War er wieder im Krankenhaus? Hatte er es geschafft? Jetzt öffnete er doch neugierig ein Auge und versuchte, seine Umgebung wahrzunehmen. Sein Blick war verschwommen und er rieb sich die Augen und blinzelte mehrmals heftig. Dann startete er einen neuen Versuch. Er stellte sofort fest, dass er nicht im Krankenhaus war. Es war eine Wohnung, er befand sich in einem Schlafzimmer, in einem Bett zwar, doch auf dem Boden befanden sich zwei weitere Matratzen. Wer wohnte hier alles? Außerdem befand sich nur eine kleine Kommode in dem Zimmer und an der Wand hing ein großer, alt aussehender Spiegel, der fast bis zum Boden reichte. Die Tür zu seinem Zimmer war verschlossen. Er versuchte immer noch, sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war und wo hier eigentlich war, als die Tür vorsichtig aufgedrückt wurde. Und da war sie wieder! Ihre bloße Erscheinung traf ihn wie ein Pfeil mitten ins Herz. Himmel, dachte er, sie war so schön, dass es ihn schmerzte, sie anzusehen und er stellte sich schnell schlafend. Sie trat auf Zehenspitzen ein, er konnte es hören, ihre kleinen Füße über den Holzfußboden tapsen. Sie trug ein Tablett, das konnte er durch einen winzigen Spalt in seinen Lidern erkennen. Hinter ihr hörte er das leise Klicken von Hundepfoten auf dem Boden. Sie stellte das Tablett behutsam auf dem Nachttisch ab. Er roch Kaffee (Kaffee!) und frisches Brot, die Butter war geschmolzen, und dazu eine Art Suppe. Er konnte jetzt den Hund geschäftig schnüffeln hören und eine kalte, feuchte Nase stupste an sein Ohr. Er hörte leise gezischte Befehle und das Klicken der Pfoten entfernte sich. Durch den kleinen Spalt konnte er sehen, dass sie einen Moment unschlüssig vor seinem Bett stand. Er spürte ihren Blick auf sich ruhen. Dann beugte sie sich ein Stück zu ihm herunter und strich ihm die Haare aus der Stirn. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, er spürte ihre kleine Hand kaum auf seiner Haut, zart wie ein Schmetterlingsflügel. Sie verweilte nur einen kurzen Moment, dann verschwand die Hand wieder und er fühlte sich ihrer Wärme beraubt. Ganz behutsam schlug sie die Decke zurück, ein kühler Lufthauch traf direkt auf seine Haut. War er etwa nackt? Nein, nur das verdreckte, zerrissene Hemd hatte sie ihm ausgezogen. Er spürte den Stoff seiner Hose an den Beinen. Sie beugte sich prüfend über den dicken Verband und... schnupperte! Jetzt schlug er doch die Augen auf. Von seiner plötzlichen Bewegung aufgeschreckt, fuhr sie ein Stück zurück. Er rieb sich erneut die Augen und sah sich um. "Wo sind wir? Und warum riechst du an mir?" Sie räusperte sich, ihre Wangen wurden schon wieder leicht rosa, er genoss diesen Anblick, sie sah so niedlich aus damit. "Bei meiner Tante Zuhause, äh... in Soho. Und ich habe an deinem Verband gerochen, um zu prüfen, ob die Wunde noch eitert. Man kann das sofort am Geruch erkennen und muss nicht dauernd den Verband dafür abnehmen." Sie erklärte es ihm so sachlich, als würde sie einem Kind erklären, wie Regen entsteht. Er nickte. "Und wie sind wir hierhergekommen? Ich war eigentlich auf dem Weg ins Krankenhaus." Wie kam er darauf, DU zu sagen? Wo kam das auf einmal her? Jetzt kam sie zu ihm und ließ sich auf die Bettkante plumpsen. "Das war wahrscheinlich dein bester Einfall seit Tagen, was?" brummte sie etwas vorwurfsvoll. Er hob eine Augenbraue und betrachtete sie fragend. "Du warst halb tot, als wir dich gefunden haben!" Sie schnaubte "schon wieder!" Er spürte wie ein Lachen in seiner Kehle aufstieg. "Du hättest nicht aus dem Krankenhaus verschwinden dürfen, es war noch viel zu früh." Schimpfte sie. Er nickte erneut. "Aye, das habe ich auch gemerkt." Sie schüttelte verständnislos den Kopf "Warum bist du überhaupt verschwunden?" Er überlegte kurz, sollte er ihr einfach die Wahrheit sagen? Ja, er konnte nicht die Frau belügen, die ihm zweimal das Leben gerettet hatte. Er seufzte resigniert und erzählte ihr alles. Von den Gesprächen der Schwestern, dem Getuschel der Ärzte und seinen nicht vorhandenen finanziellen Möglichkeiten. Sie hörte aufmerksam zu. Als er geendet hatte, seufzte sie tief "Ja, ich habe meine Stelle hingeworfen deswegen." Er riss erstaunt die Augen auf. "Ich hatte eigentlich gehofft, diese Gerüchte würden aufhören, wenn ich verschwinde. Ich wollte verhindern, dass du wegen mir deine Arbeit verlierst. Wie kam es dazu?" Ein bösartiges kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Ich habe meiner Zimmergenossin ein paar saftige Ohrfeigen verpasst, weil sie lauthals durch die Station geschrien hat, dass wir... ähh..." Wieder wurde sie rot. Er nickte verständnisvoll. "Und dann?" Wieder dieses gefährliche Aufblitzen in ihren Augen. "Naja, dann habe ich meine Sachen gepackt, meine Uniform durch die Gegend geworfen und vor dem Abgang noch eben ihren Spiegel zertrümmert." Er musste lachen. Gott, die Kleine hatte wirklich Feuer! Er liebte Frauen mit Temperament. Jetzt lächelte sie ihn verlegen an und senkte etwas beschämt den Blick, doch damit konnte sie ihn nicht täuschen, auch wenn sie sich gut unter Kontrolle hielt. Er hatte es genau gesehen, dieses Verlangen in ihrem Blick, kurz nur, weniger als eine Sekunde. Doch es war da, ganz sicher! Oh Gott, und wie er sie wollte! Nicht für eine Nacht, nein, so Einer war er nicht. Er wollte sie festhalten, ihre Hand nehmen und für immer festhalten, bis ans Ende seines Lebens. Er wollte diese schön geschwungenen rosa Lippen küssen, sein Gesicht in ihren kastanienbraunen Locken vergraben und glücklich in ihren Armen sterben. Er musste immer noch Fieber haben. War er denn völlig übergeschnappt? Auch wenn sie nun nicht mehr Patient und Krankenschwester waren, auch wenn sie sich duzten und sie (einigermaßen) entspannt nebeneinander saßen und sich unterhielten, sie war immer noch weiß. Und er war immer noch mittellos, schwer verletzt und absolut nicht fähig, für sie zu sorgen. Geschweige denn, sie zu beschützen. Er fluchte innerlich. Er war ihr im Moment ungefähr so nützlich wie ein Stein im Schuh, das wusste er, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Er räusperte sich "Es tut mir sehr leid, dass du wegen mir keine Arbeit mehr hast und ich muss dir danken. Du hast mir in einer Woche zweimal das Leben gerettet, obwohl wir uns gar nicht kennen. Ich werde das wahrscheinlich nie wieder gutmachen können." Sie machte eine abwertende Geste "Ach, ich bitte dich! Das gehört zu meiner Berufung und ich hätte nie wieder in den Spiegel sehen können, wenn ich dich einfach deinem Schicksal überlassen hätte." Er sah ihr lange in die Augen. Sie war nervös, er spürte es, ihr ganzer Körper vibrierte vor Aufregung, sie knetete die Hände im Schoß und blickte hektisch hin und her. Sie versuchte seinem Blick auszuweichen. Dann fasste er einen Entschluss. Zum Teufel mit den Plänen und der Zukunft! Er würde es mit ihr versuchen, wenn sie ihn auch wollte. Und er würde tun, was er konnte, damit sie glücklich war. Ihre Hände lagen auf ihren Oberschenkeln und hatten sich in ihren Rock verkrallt. Ganz langsam streckte er seine Hand aus und legte sie behutsam auf die ihre. Er wartete auf eine Reaktion, irgendetwas, das ihm sagte, ob er weiter gehen oder zurückrudern sollte. Sie zögerte, er konnte die Gedanken in ihrem Kopf fast hören, so laut arbeitete es darin. Er betete kurz, dass sie ihm nicht gleich auch eine überziehen würde, so wie ihrer Kollegin. Und da geschah es. Sie ergriff seine Hand! Ganz vorsichtig, so wie man einen kleinen Vogel in der Hand hält. Er begann, mit dem Daumen über ihren Handrücken zu streicheln, ganz zart nur. Er fürchtete, eine plötzliche Bewegung zu machen und sie vielleicht zu verschrecken. Herrgott, sie ist doch kein Reh! Dachte er. Sie hielt seine Hand nun in beiden Händen und strich sanft mit den Fingern darüber, betrachtete sie ganz genau. Seine rauen Schwielen auf der Unterseite, die kleinen Schrammen und Kratzer. Am seinem Daumen hatte er einen hässlichen Schnitt, der rot gerändert war und schmerzte. Er sog die Luft ein, als sie mit dem Daumen darüberfuhr. Sie bemerkte es und blickte erschrocken zu ihm auf. "Entschuldige" stammelte sie. Er traute seinen Augen nicht, sie zog seine Hand zu sich hin und küsste die Wunde! Ganz zart, nur ein Hauch und doch ganz klar ein Kuss! Jetzt konnte er sich nicht länger zurückhalten.

Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, das zu tun! Doch ich hatte es getan, ich hatte diese Schramme an seinem Daumen geküsst und ich war mir sicher, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war. Noch bevor ich wusste, was er vorhatte, hatte er sich langsam zu mir vorgebeugt, mein Gesicht in beide Hände genommen, erst ganz vorsichtig, so als wollte er meine Reaktion abwarten. Als er merkte, dass ich nicht zurückwich, wurde er etwas mutiger und seine wundervoll geschwungenen, leicht geöffneten Lippen kamen meinen immer näher. Es war ein sehr sinnlicher, langsamer, intensiver Kuss. Ich hatte noch Stunden später seine vollen, weichen, warmen Lippen gespürt. Ganz zärtlich hatte er meinen Mund mit seinem erkundet, meine Wange gestreichelt, die Augen dabei geschlossen. Er atmete immer heftiger, ich konnte es deutlich hören. Nach einer Weile löste er sich von mir, wie um die Kontrolle zu behalten. Als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, lächelte er und flüsterte "Ich muss mich etwas zurückhalten, ich mache so etwas sonst nicht. Und du bringst mich um meinen Verstand!" Seine Stimme war nur ein tiefes, raues Flüstern, es hatte etwas animalischen und mir jagten Gänsehautschauer den Rücken hinunter. Ich war wie betäubt, völlig unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ich weiß nicht, was für einen Ausdruck ich im Gesicht hatte, doch es musste amüsant ausgesehen haben, denn er schmunzelte. Dann nahm er wieder meine Hand, diesmal in beide Hände und küsste auch diese ausgiebig. Ich spürte seine warme raue Haut, fühlte die Schwielen über meinen Handrücken kratzen, doch es kümmerte mich nicht. Ich war längst in Sphären aufgestiegen, in denen die Welt um mich herum nicht mehr existierte. Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals und das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass jedes Geräusch nur sehr gedämpft zu mir vordrang. Alles war in weite Ferne gerückt. Er hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen und ich zerfloss wie Eis in der Sonne. Ich hatte das Gefühl, mich vollkommen aufzulösen, bestand nur noch aus Herzklopfen. Das Pulsieren war so heftig, ich war überzeugt, dass man es deutlich sehen konnte. Ich blickte tief in diese großen, dunklen, unergründlichen Augen. Sein Blick traf mich bis in mein Innerstes. Wir saßen einfach da und blickten uns tief in die Augen, bemerkten kaum, dass sich unsere Gesichter immer näher kamen. Diesmal ergriff ich sein Gesicht, strich sanft über seine Wangen, fuhr die scharfe Kante seiner Wangenknochen mit dem Daumen nach, tastete mich vorsichtig zu seinen Lippen vor. Sie waren groß und voll, ein wenig trocken, doch sie fühlten sich ganz warm und glatt an. Fast wie Seide, dachte ich benommen und musste bei dem Gedanken idiotisch grinsen. Er schenkte mir erneut sein bezauberndes Lächeln und küsste mich. Es war wirklich atemberaubend. Buchstäblich. Nach einer Weile musste ich mich widerwillig von diesen wunderbaren Lippen lösen, weil ich sonst zu ersticken drohte. Auch er schnappte nach Luft, als sich ihm die Gelegenheit bot. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich mich auf dem Bett zurückgelehnt hatte, ich lag auf der Seite, das Gesicht Samuel zugewandt. Er stützte sich jetzt auf den Ellbogen und rutschte vorsichtig etwas dichter an mich heran. Er lächelte mich an "Ich wollte das schon die ganze Zeit tun." Gab er zu und sah ein wenig beschämt nach unten. Er atmete tief durch, wie um seinen Mut zu sammeln, dann fasste er meine Hand und blickte zu mir auf. "Schon seit ich dich vor dem Laden gesehen habe. Du sahst so entzückend aus mit deinen knallroten Wangen." Ich musste lachen. "Also hast du es gesehen?" er grinste. "Das konnten die Leute in New Jersey noch sehen!" Ich spielte die Empörte und boxte ihn leicht auf die Schulter. Wir balgten ein bisschen auf dem Bett herum, so gut es ging mit seiner Wunde. Nach kurzer Zeit war er außer Atem und wir legten eine Pause ein.

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