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Sam erwachte am Morgen sehr spät und hielt immer noch ihre Hand. Ungläubig beugte er sich über die Bettkante und sah zu ihr herunter. Sie lag friedlich schlummernd auf der Seite und hielt seine Hand an ihrer Wange. Tante Milly schien schon auf zu sein, oder sie hatte im Wohnzimmer auf dem Sofa geschlafen. Er hatte weder gehört wie sie hereinkam, noch wie sie wieder ging. Und er hatte einen leichten Schlaf, ihm entging eigentlich kein Geräusch. Und natürlich war er aufgewacht, als Liz sich hineingeschlichen und umgezogen hatte. Doch anstandshalber hatte er die Augen geschlossen gehalten und sich schlafend gestellt. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Wieder betrachtete er den schlafenden Engel unter ihm. Ihr Haar fiel in einer wogenden Flut aus kastanienbraun, Kupfer und Gold über ihre Schultern. Es wirkte beinahe lebendig. Eine geringelte Locke lag auf ihrer Wange, doch sie bemerkte es nicht. Er streckte seine freie Hand aus und strich sie ihr sanft aus dem Gesicht. Bei dieser federleichten Berührung zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen, nur ganz kurz, ein leichtes Kräuseln, das sofort wieder verschwand. Es schmerzte ihn sehr, dass er fortgehen musste, doch er konnte den beiden nicht noch länger auf der Tasche liegen. Außerdem hatte er große Angst, dass die Nachbarn anfangen könnten zu reden, wenn er wie selbstverständlich bei ihnen ein und aus ging. Er wollte Liz nicht dem Hass dieser herzlosen Monster aussetzen. Sie hatte es nicht verdient, darunter zu leiden, dass sie ihm das Leben gerettet hatte. Ganz behutsam befreite er seine Hand, hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und erhob sich. Er machte sich nicht die Mühe, das Hemd zu öffnen, sondern zog es sich einfach über den Kopf. Dann schlich er barfuß über den Flur ins Badezimmer. Auf dem Flur vernahm er tiefe Schnarchlaute aus dem Wohnzimmer, also hatte Milly doch auf dem Sofa geschlafen. Er erleichterte sich kurz und trat zum Waschbecken, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Er liebte dieses erfrischende Gefühl, den kleinen Schock, der einem den Atem raubte, wenn das eisige Wasser auf seine Haut traf. So erfrischt betrat er die Küche und beschloss kurzerhand, heute für die beiden Frühstück zu machen. Die einzige Gesellschaft, die er hatte, war der kleine, dickliche Hund, der ihm auf Schritt und Tritt folgte und ihn offensichtlich anhimmelte. Leise lachend schüttelte er den Kopf darüber "Nur Verrückte..." sagte er leise zu sich selbst und der Hund legte fragend den Kopf schief. Er grinste jetzt "Ja, du auch!" Jetzt legte das begriffsstutzige Tier den Kopf auf die andere Seite. Er lachte immer noch leise vor sich hin und machte sich wieder daran, das Essen vorzubereiten.

Ich erwachte aus einem verwirrenden, aber angenehmen Traum, der irgendetwas mit Händen zu tun hatte, und streckte mich erst einmal genüsslich. Als nächstes bemerkte ich, dass ich die Letzte war, die noch im Bett lag. Die beiden anderen Schlafstätten waren verlassen und aus der Küche hörte ich die verräterischen Geräusche von Frühstück. Ich erhob mich rasch und stieg in meine Kleider. Als ich die Tür zum Flur öffnete, schlug mir der verführerische Duft von Kaffee und Spiegelei entgegen, doch vorher musste ich dringend ins Bad. Ich huschte eilig durch den Flur und warf im Vorübergehen einen kurzen Blick in die Küche. Stand Sam da in der Küche und machte Frühstück? Ich wollte noch einmal zurückgehen und mich vergewissern, doch meine Blase duldete keine weitere Verzögerung und so eilte ich weiter ins Bad. Welch eine Erleichterung! Danach warf ich einen prüfenden Blick in den Spiegel. Mein Haar war ein wenig zerzaust und ich schnappte nach meinem Kamm und machte mich an die Arbeit. Dann flocht ich mein widerspenstiges Haar im Nacken zu einem lockeren Zopf zusammen und trat wieder in den Flur. Die Tür zum Wohnzimmer stand einen Spalt breit offen und von drinnen konnte ich lautes Schnarchen hören. Neugierig spionierte ich durch den Türspalt. Auf dem Sofa zusammengerollt lag Tante Milly und veranstaltete diesen Höllenlärm. Sie trug immer noch ihre Sachen von gestern und hatte sich mit einem Vorhang zugedeckt. Überall auf dem Tisch standen noch die benutzten Gläser und der unangenehme Geruch von kaltem Zigarettenqualm stach mir in die Nase. Ich schloss leise die Tür und wandte mich den angenehmeren Düften der Küche zu. Ich schlich leise den Flur entlang und strecke den Kopf um die Ecke. Er stand mit dem Rücken zu mir am Herd und briet offenbar Spiegelei. Lässig schwenkte er die Pfanne hin und her, dann ging er zwei Schritte zur Kaffeekanne und goss einen kräftigen Schluck in den Becher der danebenstand. Ohne sich zu mir umzudrehen sagte er unvermittelt "Möchtest du auch Kaffee?" Verdammt, woher wusste er, dass ich ihn beobachtet hatte? Ich trat verlegen in die Küche und stammelte "J-ja, gerne..." Er reichte mir eine Tasse und ich setzte mich. Als die Eier fertig waren, bereitete er für jeden von uns einen Teller und setzte sich mir gegenüber. Wir aßen eine Weile schweigend. "Woher wusstest du, dass ich da stehe?" fragte ich unvermittelt und er sah mich ernst an. "Ich bin Indianer. Ich habe ein viel feineres Gehör als ihr Stadtmenschen. Ich konnte dich atmen hören." "Wirklich?" ich war beeindruckt. Er lachte "Nein, das war nur ein Scherz. Ich habe die Toilettenspülung gehört und da Tante Milly immer noch Bäume absägt..." Jetzt musste ich auch lachen, gleichzeitig schämte ich mich ein bisschen, dass ich ihm so einfach auf den Leim gegangen war. Plötzlich nahm sein Gesicht einen niedergeschlagenen Ausdruck an und konnte erahnen woran er dachte. "Wann wirst du abreisen?" fragte ich vorsichtig. "Morgen..." Es traf mich wie ein Schlag, obwohl es mir eigentlich hätte klar sein müssen. Er wollte uns nicht zur Last fallen. Dennoch stimmte es mich sehr traurig, dass er schon so bald gehen musste. "Würdest du vielleicht später mit mir zum Bahnhof gehen und eine Fahrkarte für morgen besorgen?" Ich nickte, immer noch in Gedanken versunken. Doch dann beschloss ich, mir meine Melancholie für einen anderen Tag aufzuheben und stattdessen jede mir verbleibende Sekunde zu nutzen. Entschlossen hob ich den Kopf. "Wollen wir vielleicht nachher in den Central Park gehen? Wir könnten ja den Hund mitnehmen und etwas zu Essen und..." Er ergriff sanft meine Hand und ich verstummte, sein Lächeln erstrahlte vor mir wie ein Sonnenaufgang. "Ja, das machen wir!"

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