4
Ich schritt eilig durch die Gänge, teilte im Vorübergehen das Frühstück an die Patienten aus, schenkte hier und dort ein freundliches Wort, eine aufmunternde Geste. Doch bei der Sache war ich nicht. Immer noch kreisten meine Gedanken um diesen mysteriösen Mohawk. Samuel, das war sein Name. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, ich wusste, wie er hieß! Exakt gleichzeitig schaltete sich mein, bis eben auffällig abwesender, Verstand hinzu und schalt mich für meine Naivität. Er war Indianer, verflucht! Er lebte in einem Reservat, er war Bauarbeiter und wahrscheinlich noch ärmer als ich. Vielleicht hatte er ja auch eine Frau und Kinder, dort wo er lebte. Es war töricht, sich einzureden, dass er sich für mich interessieren könnte... Oder dass es einen Unterschied machen würde, selbst wenn er es tat. Ich würde von der Gesellschaft verachtet werden, vielleicht sogar offen angefeindet, angegriffen... So wie er in der letzten Nacht! Bei diesem Gedanken zog sich mein Magen krampfhaft zusammen. Mit ansehen zu müssen, wie er zu Tode geprügelt wurde... Nein! Daran wollte ich gar nicht denken. Doch gab es eine Alternative? Das Reservat? Dort wäre ich wahrscheinlich die Ausgestoßene. Frustriert warf ich die Arme in die Luft und seufzte schwer. "Ist etwas nicht in Ordnung?" ich vernahm eine angenehme, weiche Männerstimme hinter mir. Als ich mich umwandte, stand vor mir der neue Stationsarzt, Dr. Goldman hieß er, glaubte ich, und sah mich teils besorgt, teils belustigt an. "Nein, Dr. Goldman, ich war nur in Gedanken." Er grinste und entblößte seine strahlend weißen Zähne. "Das konnte ich sehen. Kann ich Ihnen vielleicht bei Ihrem Dilemma behilflich sein?" Ich lächelte schwach. "ich fürchte nicht, aber der Patient in Zimmer 14 braucht etwas gegen seine Schmerzen." Er warf einen Blick auf die Schiebetafel, auf der die Namen der Patienten und die dazugehörige Zimmernummer abzulesen waren. "Ah, der Indianer, der heute früh hereinkam! Man erzählt sich ja schon die abenteuerlichsten Schauermärchen über diesen Mann." Jetzt klappte mir die Kinnlade herunter. "Wer erzählt denn hier Schauermärchen? Und worum geht es denn schon wieder?" ich schüttelte angewidert den Kopf, wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann waren es Klatschweiber. Etwas erstaunt über meine heftige Reaktion hob Dr. Goldman eine Augenbraue, doch er berichtete mir bereitwillig davon. "Der Nachtwächter erzählt, sie seien mitten in der Nacht mit dem blutüberströmten Mann unterm Arm erschienen wie eine Heldin und hätten dann auch noch Dr. Hunter bei der Operation assistiert." Ich nickte "Bis dahin stimmt es ja auch." Er betrachtete mich stirnrunzelnd von Kopf bis Fuß, als wollte er abschätzen, ob ich dazu körperlich überhaupt fähig war. "Ja, und ab da wird es abenteuerlich, ihre Zimmergenossin sagt, sie seien einige Stunden vorher aus dem Wohnheim geschlichen, um sich heimlich mit diesem Mann zu treffen!" Jetzt war ich wirklich zutiefst schockiert, obwohl ein kleiner Teil von mir schon mit so etwas gerechnet hatte. "Diese verlogene Hexe!" zischte ich. Dr. Goldman nickte nachdenklich "Das habe ich mir gedacht... Es liegt mir äußerst fern, Ihnen etwas Derartiges zuzutrauen, aber für die Oberschwester kann ich keine Garantie übernehmen. Sie wissen ja..." Ich nickte mehrmals hintereinander und machte eine abwertende Geste. "Ich weiß, ich weiß. Ich hoffe, sie schenkt dem Gerede ebenfalls kein Gehör." Er schien noch nicht ganz zufrieden. "Dennoch waren Sie vorhin auffällig lange in seinem Zimmer, ich habe es gesehen..." Schockiert öffnete ich den Mund und wollte ihm etwas sehr unschönes an den Kopf werfen, doch er brachte mich mit einer Geste abrupt zum Schweigen. "Schon gut, ich will Ihnen gar nichts unterstellen. Lassen Sie beim nächsten Mal einfach die Zimmertür offen, dann gibt es auch keine wilden Spekulationen mehr." Uff, das traf mich doch wie ein Schlag. Da war ich nachts aus dem Bett geschlichen, weil mich mein Gewissen quälte, hatte einem wildfremdem Mann das Leben gerettet und nun musste ich um meine Anstellung fürchten? Ohne zu überlegen, ließ ich alles stehen und liegen und schritt mit langen Schritten zum Schwesternwohnheim herüber. Wenn ich diese dumme Pute dort fand, konnte sie wirklich etwas erleben! Doch das Zimmer war verlassen. Also griff ich wieder in mein Zigarettenversteck und schloss mich im Bad ein. Ich ließ mich auf den Boden plumpsen und hielt die Wange an die kühlen Fliesen an der Wand. Während ich dort saß, konnte ich durch das geöffnete Fenster die Vögel zwitschern hören. Es waren auch ein paar Möwen darunter, ihre schrillen Kreischlaute waren unverwechselbar. Nach einer Weile hatte ich mich wieder gefangen und eilte zurück zu meiner Arbeit.
DU LIEST GERADE
I see fire
Romance... Als ich vorsichtig den Kopf in die Dunkelheit streckte, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten und ich etwas erkennen konnte. Ich machte ein, zwei Schritte in die Gasse hinein und sah mich um. I...