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Ossining, New York, 10. Mai 1931

Ich kam mal wieder keuchend und völlig verschwitzt am Pförtnerhäuschen des Gefängnisses an. Ich ärgerte mich innerlich, dass ich einen Tag länger gebraucht hatte, als geplant. Ein überraschend heftiges Sommergewitter, gepaart mit tonnenweise Schmelzwasser, hatte die Flüsse über die Ufer treten lassen und eine Eisenbahnbrücke in der Nähe von Saratoga Springs weggespült, sodass ich einen Tag Umweg in Kauf nehmen musste. Etliche Umsteigebahnhöfe später hatte ich dann doch Ossining erreicht und mich völlig entnervt den Hügel zum Gefängnis hinauf gekämpft. Immer noch außer Atem hielt ich dem Pförtner meinen Pass entgegen. Er blickte überrascht auf mich herunter, was mich aber nicht im Geringsten beunruhigte, ich sah wahrscheinlich aus, als hätte ich einen gigantischen Kürbis verschluckt, noch dazu war ich knallrot und keuchte und schwitzte wie eine Dampflok. Der Wärter betrat sein Pförtnerhäuschen und ich wartete geduldig davor und nutzte die wenigen Sekunden, um wieder etwas zu Atem zu kommen. Allmählich beachtete ich die neugierigen Blicke der Leute kaum noch. Der Pförtner kehrte aus seinem Häuschen zurück und reichte mir meinen Pass. Ich wandte mich in Richtung des großen Tores und erwartete, dass er mich einlassen würde. Als er zögernd stehen blieb, drehte ich mich zu ihm um. „Stimmt etwas nicht?“ Fragte ich unverbindlich. Ich erwartete irgendwelche fadenscheinigen Überredungsversuche, dass ein Gefängnis kein Ort für mich sei, erst recht nicht in meinem Zustand, etwas in der Art. Doch auf die folgenden Ereignisse war ich nicht annähernd vorbereitet.

Der Pförtner fühlte sich offensichtlich überhaupt nicht wohl in der Situation, er knetete nervös seine Hände und sein Blick huschte mal hierhin, mal dorthin. Etwas genervt seufzte ich auf und ging die paar Schritte zurück zu ihm. „Sie brauchen sich keine Gedanken machen, ich habe nicht vor, mein Kind in einem Gefängnis zu bekommen.“ Er wirkte immer noch nervös. „Miss, Ihr Verlobter ist letzte Nacht ausgebrochen.“ Diese Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. „Wie denn das, zum Teufel?“ Entfuhr es mir und er riss erstaunt die Augen auf. „Verzeihung.“ Fügte ich kleinlaut an. Der Mann atmete tief durch und begann eine knappe Erklärung. „Er hat einen Wachmann bewusstlos geschlagen, sich den Schlüssel genommen und ist auf und davon, wir sind ihm gefolgt, aber im Dunkeln ist er einfach in den Wäldern verschwunden. Wie ein Schatten… Diese verdammten Indianer!“ Fügte er mit bitterem Unterton hinzu. Ich räusperte mich ungehalten und funkelte ihn böse an. Sofort fing er sich wieder und murmelte eine unverständliche Entschuldigung. „Nun, Miss… Wir müssen jetzt davon ausgehen, dass er sich auf den Weg zu seiner Familie macht. Wir haben bereits mit der kanadischen Polizei Kontakt aufgenommen.“ Wie erstarrt blickte ich durch den Mann hindurch und realisierte allmählich das Ausmaß dieser Mitteilung.

Sie würden seine Familie verhören, vielleicht würden sie sie beschatten und Sam auflauern, ich konnte nur hoffen, dass er so klug war, sich nicht in Kahnawake blicken zu lassen. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken und ich bemerkte kaum, dass der Pförtner immer noch auf mich einredete. Nur einige Satzfetzen erreichten mein Hirn. „… und zu diesem Zweck müssten wir Ihnen auch ein paar Fragen stellen.“ Diese Worte rissen mich urplötzlich aus meinen wirren Gedanken. „Mir?“ Fragte ich ungläubig und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme ein wenig piepsig wurde. „Aber ich wusste doch bis eben nicht mal, dass er ausgebrochen ist! Ich bin den ganzen Weg aus Kanada hierhergekommen, um ihn zu besuchen.“ Er machte eine beruhigende Geste mit den Händen „Keine Sorge, Miss. Das ist nur Routine. Sie sagen der Polizei einfach, was sie wissen, dann können Sie wieder gehen.“ Das beruhigte mich nicht im Geringsten. Was hatte Sam nur vor?

Plötzlich wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich seine Andeutungen wohl völlig falsch interpretiert hatte. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht und die Angst lag mir wie ein Klumpen Eis im Magen. Intuitiv legte ich die Hände auf meinen Bauch, wo klein Oscar seelenruhig und nichts ahnend vor sich hin dümpelte. Ich nickte nur stumm und folgte dem Wachmann in das kleine Pförtnerhäuschen. Er bot mir einen Stuhl an und reichte mir ein Glas Wasser, dass ich gierig hinunterkippte. „Ich habe die örtliche Polizei bereits benachrichtigt, Sie können hier warten, bis die Kollegen Sie abholen.“ Überrascht blickte ich auf, sein Gesicht zeigte lediglich einen unverbindlichen Gesichtsausdruck. „Die Polizei übernimmt die Befragungen, wir müssen ja hier weiter auf die anderen Insassen aufpassen.“ Ich konnte nur noch betreten nicken, mir hatte es wirklich die Sprache verschlagen.

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