4 Herr Kleinhans

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So, da sitzt er also wieder bei mir im Büro. Der kleine Jaron aus dem ich nicht schlau werde. Er sieht immer so ängstlich, so gehetzt aus als würde er gejagt. Nachdem was ich eben mit eigenen Augen und Ohren mit ansehen musste weiss ich nun auch weswegen er immer so ängstlich drein schaut. Gino, ein ziemlich cleveres Bürschchen hat sich seiner angenommen. Gino ist ein sehr guter Schüler. So manch eine von seinen Arbeiten hatte ich schon auf meinem Tisch und in jedem Fach bringt er glänzende Leistungen. Seine ehemalige Klassenlehrerin hat sich bei ihm nie über die Leistung beschwert, bei diesem Jungen hatte sie immer Angst dass er im sozialen versagt. Er hat keinen einzigen Freund, scheint an Gruppenaktivitäten kein Interesse zu haben und hat sich auch bei der letzten Klassenfahrt krank gemeldet. Der Junge hatte ein wasserdichtes Attest. Er hat sich den Arm gebrochen. Den Gips hat er noch Wochen getragen. Frau Neubauer vermutet dass sich Gino den Arm mit Absicht gebrochen hat um nicht mit auf die Klassenfahrt fahren zu müssen. Gino hat erzählt dass er beim Klettern vom Gerüst gefallen ist. Da kann man ihm keine Absicht vorwerfen. Dennoch ist es sehr auffällig dass er den Kontakt zu anderen Kindern für gewöhnlich meidet. Seit dem Tod seiner Eltern hat er sich sozial noch weiter zurück gezogen. Wenn er im Heim genau so isoliert ist wie in der Schule dann hat er genau keine Sozialkontakte. Doch sowie er Jaron anschaut, so voller Liebe, voller Hoffnung könnte man vermuten dass dies der Beginn einer guten Freundschaft wird. Ich hoffe es wenigstens. Gino bräuchte dringend einen Freund und Jaron ebenfalls. Gino nimmt den Jaron ganz schön in Schutz und wagt es Herrn Brandt anzuklagen. Der hat Jaron wohl grundlos fertig gemacht und so wie es der Junge erzählt auch nicht wirklich subtil sondern echt gemein. Ich werde mir den Klassenlehrer der beiden wohl vorknöpfen müssen. Doch jetzt will ich erst einmal herausfinden wer Jaron alles mobt und vor wem der Junge alles Schiss hat. So wie es ausschaut hat er so ziemlich vor allem und jedem Angst. Seinen Eltern, seinem Bruder, seinen Grosseltern, den Lehrern und den Mitschülern. Wenn ich mir den Knirps so ansehe scheint er auch vor mir mehr als Muffensausen zu haben. Da ich noch keinen Einblick in das Elternhaus des Kindes habe beschliesse ich hier in der Schule mit den Nachforschungen anzufangen. Jaron hat tierische Angst vor Herr Brandt. So weit ich es selber gehört habe und soweit es Gino erzählt hat auch nicht ganz grundlos. Ich lasse nach einem ehemaligen Klassenkamerad von Jaron schicken und es kommt Sina, ein nettes Mädchen mit gutem Notendurchschnitt. Als sie Jaron vor meinem Schreibtisch wie ein Häufchen Elend sitzen sieht da nimmt sie ihn erst einmal in den Arm und streichelt ihm die Locken. Gino schaut sie dabei sehr giftig an. Jaron scheint über die vertraute Geste erschrocken zu sein. Ich bitte das Mädchen mir zu berichten wie Jaron im letzten Schuljahr behandelt wurde, speziell vom Klassenlehrer. Sina schaut traurig, doch dann wild entschlossen. Sie berichtet von den ungeheuren Missständen in meiner Schule. Sie berichtet wie Herr Brandt, aber auch einige andere Lehrer den kleinen Jungen vor der ganzen Klasse bloss gestellt haben. Wie oft er den Spott der Schüler und Lehrer über sich ergehen lassen musste. Wie er immer als dumm und dämlich bezeichnet wurde und wie er schliesslich abgesondert von den anderen alleine in der hintersten Ecke des Klassenraums gelandet ist. Ohne Chance auch nur irgendetwas an der Tafel lesen zu können oder dem Unterricht vernünftig folgen zu können. Ich muss zugeben dass mich Sinas Bericht erschüttert. Ich lasse mir die Liste der Lehrer geben die Jaron schlecht oder unfair behandelt haben und Jaron nennt mir die Lehrer denen er vertraut. Das sind nicht viele!
Ich entlasse die Kinder als es zur Pause schellt. Danach Eile ich ins Lehrerzimmer wo ich auf Herrn Brandt treffe. Entgegen meiner üblichen Art spreche ich den Lehrer sehr direkt und vor allen Kolleginnen und Kollegen an. Zunächst versucht er sich herauszureden dass es ein Scherz gewesen sein soll. Doch als er mitbekommt dass ich über die gesamte Konversation im Bilde bin gibt er kleinlaut zu dass er es etwas zu weit getrieben habe. „Etwas ist ja wohl untertrieben. Wollten sie daran anknüpfen wo sie im letzten Jahr aufgehört haben?" frage ich Herrn Brandt direkt. Der stottert herum und beschuldigt dann andere Kollegen das Kind ebenfalls im Stich gelassen zu haben. Ich blicke mich im Raum um und sehe die betretenen Gesichter der Kollegen. „Das ist mir durchaus bewusst dass sie nicht alleine das Kind seelisch misshandelt haben. Ich würde gerne heute Nachmittag eine außerordentliche Konferenz anberaumen in der es um Jaron geht. Ich würde Ihnen allen dringend ans Herz legen zu erscheinen. Damit verlasse ich das Lehrerzimmer um mir Notizen zu dem Fall Jaron zu machen. Danach lasse ich seinen Bruder Noah kommen. Ihm möchte ich auf den Zahn fühlen weswegen Jaron so eine Heidenangst vor seinen Eltern und Großeltern hat. Was der Junge mit berichtet verschlägt mir die Sprache. Eigentlich müsste ich sofort Polizei und Jugendamt informieren. Das Kind wird daheim regelmäßig misshandelt. Noah berichtet seelenruhig von massiver körperlicher und seelischer Gewalt gegen seinen Bruder. Noah scheint das Unrecht nicht einmal mehr aufzufallen. Er amüsiert sich über die Qualen die Jaron erdulden muss. So wie es scheint benutzt Noah Jaron ebenso selbstverständlich als Punchingball wie alle anderen Menschen in seiner Umgebung auch. Dem Kind mache ich keinen Vorwurf dass er das Unrecht unhinterfragt hinnimmt. Aber warum die Erwachsenen Jaron so quälen möchte ich dringend herausfinden. Ich rufe beim Jugendamt an und schildere den Fall. Der Beamte verspricht bei Jaron daheim vorbei zu schauen. Dann bereite ich mich auf die Konferenz vor. Doch leider haben sich meine Lehrer auch vorbereitet. Alles was sie zugeben ist dass sie irgendwann aufgegeben hätten das Kind zu unterrichten. Sie lassen ihr Verhalten so erscheinen dass der Junge nicht beschulbar sei und er darum nur verwahrt wurde. Dass sie ihn aktiv gehänselt und gemobbt haben weisen sie weit von sich. Lediglich die Kunstlehrerin und die Religionslehrerin haben sich aktiv um den Jungen bemüht. Doch auch sie berichten dass sie kaum an das Kind heran gekommen seien und er sich selten am Unterricht beteiligt habe. Jaron lebt in seiner eigenen Welt, er träumt viel und wenn man ihn lässt dann hat er Spaß an der Bewegung. Doch er ist nicht koordiniert, kommt offenbar mit seinem eigenen Körper nicht zurecht. Er kann mitten im Dauerlauf plötzlich aufhören und sich in der Betrachtung eines Steins oder einer Blume verlieren. Der Sportlehrer hasst ihn weil Jaron eigentlich die geforderten Übungen kann, sie aber im entscheidenen Moment nicht ausführen kann. Wenn Jaron auf ein Turngerät gezwungen wird fällt er herunter. Drängt man ihn zum Laufen dann stolpert er. Doch wenn sich Jaron freiwillig auf die Geräte wagt dann brilliert er. Dann kann er sogar einen Flic Flac und er ist dann sehr geschickt.

Selig sind die hoffnungslosen, denn sie werden nicht enttäuscht. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt