16 Uwe

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Der Fall Jaron ist einer der schrecklichsten die ich jemals hatte. Jaron ist ein ganz lieber aber furchtbar zurückgebliebener Junge. Wenn ich nicht wüsste dass er schon sechzehn ist hätte ich ihn auf zwölf geschätzt oder jünger. Er ist so vertrauensseelig, man könnte auch einfältig dazu sagen. Seine Adoptiveltern sind mit seiner Behinderung nicht zurecht gekommen und sie haben ihm versucht die Behinderung mit Schlägen auszutreiben. Jaron muss furchtbar unter den Eltern gelitten haben. Dennoch liebt er sie abgöttisch. Als ich ihm gesagt habe dass er nicht wieder zu ihnen zurück kann hat er angefangen zu weinen. Er war so hilflos und verloren. Ich hätte ihn am liebsten in den Arm genommen um ihn zu trösten. Gut dass er einen Freund hat. Sein Gino scheint in allen Lebenslagen Jarons Stütze zu sein. Er hängt sich völlig an den anderen Jungen und macht alles was der jüngere sagt. Ich bin mir nicht sicher ob diese Abhängigkeit gesund ist. Jaron und Gino kämpfen um einen gemeinsamen Heimplatz und (leider) sind da Plätze frei. Ich hätte Jaron lieber in einer etwas behüteteren Einrichtung gesehen. Aber gut. Ich werde wohl ein Auge mehr auf meinen Schützling werfen müssen. Das Heim, in das er jetzt kommt, ist eigentlich für ältere Jugendliche. Strassenkids die von zu Hause ausgerissen sind, Kinder die in ihren Familien nicht zurecht kommen, wo die Eltern mit der Erziehung völlig überfordert sind. Also eigentlich genau das was Jaron passiert ist könnte man meinen. Aber Jaron passt da nicht rein. Wie gesagt, er ist zurückgeblieben. Die anderen werden ihn ausnutzen, vielleicht sogar Gewalt antun. Gewalt ist in diesem Heim irgendwie an der Tagesordnung. Ich hoffe dass die Erzieher meinen Schützling schützen können. Jaron würde alles machen was andere ihm sagen. Wenn die Kids das herausfinden wird sein Leben schrecklich.

Jaron lebt absolut in seiner Welt. Phantasie und Wirklichkeit verschwimmen bei dem Jungen. Es war gar nicht so einfach den Tathergang aus dem Jungen heraus zu bekommen. Er hat nie seinen Vater angeklagt. Er hat immer von Riesen, Drachen, Trollen und Feen erzählt. Die Psychologin hat lange gebraucht um zu dem Jungen vorzudringen. Als sie endlich sein Vertrauen hatte hat der ihr dann bereitwillig alles erzählt. Wenn man sich die Akte durchliest wird einem schlecht. Der Junge hat viel Leid erfahren. Er fühlt sich minderwertig und wurde sein leben lang gequält für Dinge die er nicht ändern kann. Jaron hat einen manifesten Minderwertigkeitskomplex davongetragen. Er sieht sich als Versager und er hat kaum Selbstbewusstsein. Er liebt seine Adoptiveltern nach wie vor sehr und wenn es nach ihm ginge würde er weiter bei ihnen wohnen. Die Gemeinheiten die ihm wiederfahren sind sieht er als Normalität an und er sieht sich in der Schuld. Er ist nicht gut ernährt worden aber Jaron scheint das nicht gestört zu haben. Ebensowenig dass er mit seinen sechzehn Jahren immer noch kein Taschengeld oder ähnliches bekommen hat. Das einzige Spielzeug ist ein uralter Teddybär den er bereits vor seiner Adoption besessen hat. Dieses Spielzeug ist in Jarons Phantasie lebendig. Der Bär scheint Jaron Lebenswillen zu geben. Der Verlust des Spieltiers hat Jaron sehr aus der Bahn geworfen. Zum Glück hat Gino den Bären geflickt so dass Jaron sich gefangen hat. War Jaron im Krankenhaus noch fahrig und wirkte gehetzt so ist er im Kinderheim in sich ruhend und zufrieden fröhlich. Seinen Bären hat er nun im Arm und er scheint sich durch das Stofftier Sicherheit zu holen. Was mir nicht ganz einleuchtet ist weswegen er den Bären verschenken wollte. Ofiziell gehört der Bär nun Gino. Jaron hat seinem Freund sein liebstes Spielzeug geschenkt. Ich muss noch herausfinden ob der andere ihn dazu gedrängt hat oder ob es feiwillig geschah. Jaron beteuert dass er den Bären freiwillig weggegeben habe. Aber er beteuert ja auch dass ihn weder seine Mutter noch sein Vater jemals ein Leid zugefügt hätten. Bei der Gerichtsverhandlung werden wir nicht mit der Aussage des Jungen rechnen dürfen. Wir werden Indizienbeweise anbringen müssen. Dazu zählen die Aussagen der Polizisten und Rettungskräfte die Jaron aus dem Keller seines zu Hauses geholt haben genau so wie die Aussage des Arztes dass Jarons Haut voller älterer Narben und Brantblasen gewesen sei. Noch heute ist Jaron nicht völlig narbenfrei. Jaron behauptet dass die Narben aus heroischen Kämpfen mit Drachen, Riesen und Trollen stammen würden. Er macht sich nichts aus den Verletzungen. Andere mit seiner Geschichte wären womöglich depressiv oder gar suizidal. Doch Jaron nimmt seine Vergangenheit einfach nur hin. Für ihn ist es seine Geschichte und die hat er noch nicht einmal als besonders schlimm empfunden. Natürlich hat ihn gestört dass er seinen Eltern nicht genügt hat. Aber er sucht den Fehler nach wie vor bei sich selber. Ich bin mir sicher dass es für Jaron eine Katastrophe war dass seine Adoptiveltern nicht lange nach seiner Adoption ein leibliches Kind bekommen haben. Eins das ihren Ansprüchen genügt, eins das ihre DNA trägt und das sie lieben und verwöhnen. Der Adoptivsohn hat das Familienidyll danach nur noch getrübt. Schade dass sie den Jungen nicht einfach wieder ins Heim zurückgebracht haben sondern es sich zur Aufgabe gemacht haben den Knaben ihrer Vorstellung nach zu erziehen. In ihren Augen ist der Junge faul und nicht etwa gehandicapt. Als ich mich mit der Mutter unterhalten habe hat sie kein Einsehen gezeigt dass ihr Sohn vileleicht geistig behindert sein könnte. Sie hat ihn als faul, aufmüpfig und frech erlebt. Sie hat seine mangelhaften schulischen Leistungen als persönliche Beleidigung empfunden. Als sei Jaron mit absicht so zurückgeblieben. Sie glaubt wahrscheinlich wirklich daran dass der Junge intelligenter wird wenn man ihn fest genug schlägt, lang genug einsperrt und hungrig ins Bett schickt. Als die Mutter mit der Diagnose ihres Sohnes konfrontiert wurde hat sie nur ungläubig geschaut. "Jaron ist doch nicht behindert! Das hätten wir doch gemerkt!" hat sie erbost gesagt. "Ihr habt es doch bemerkt und den Jungen dafür bestraft." hat die Ärztin erwidert. Ich bin mir nicht sicher ob die Mutter das verstanden hat. Wenn sie es verstanden hat dann müsste sie sich nun schämen. Doch ich glaube dass sie immer noch der festen Überzeugung ist dass Jaron nur frech zu ihr sei. Ich hoffe sehr dass der Richter den Jungen nicht wieder zurück in sein zu Hause steckt. Das darf einfach nicht passieren.

Vor der Gerichtsverhandlung treffe ich mich noch einmal mit Jaron. Ich habe extra Gino gebeten seinen Freund zu begleiten. Die beiden Jungs sitzen etwas nervös in meinem Büro. Mit einer Cola und ein paar Keksen kann ich die beiden aber zum Strahlen bringen. Ich rede Jaron ins Gewissen dass er morgen am besten die Aussage verweigern soll. Jaron fühlt sich in dem Heim wohl. Die anderen Kinder und Jugendlichen lassen ihn wohl weitgehend in Ruhe und mit Gino versteht er sich blendend. Sogar seine neue Schule macht Jaron Spass. "Ich glaube ich versthe jetzt sogar Mathe!" strahlt er mich an. Gino nickt unterstützend und er erklärt mir was Jaron jetzt schon alles weiss. Ich freue mich dass es dem Jungen so gut geht. "Vermisst du eigentlich deine Eltern?" frage ich Jaron direkt. Um die Ecke würde er nicht verstehen. Jaron schluckt und er schaut mich lange an. Dann schüttelt er seine blonden Locken. "Nein, eigentlich nicht." gibt er geknickt zu. "Das ist doch gut." muntere ich ihn auf und Jaron schaut mich völlig perplex an. "Aber man muss doch seine Eltern lieben, nicht?" Ich verneine. "Wenn sie dich nicht gut behandeln dann nicht." erkläre ich dem Jungen. Der wundert sich und sagt: "Aber meine Eltern haben mich doch gut behandelt, oder?" Ich schüttle den Kopf. "Nein. Du hattest dein Bett mehr oder weniger im Freien, also im Keller. Ohne Tür, ohne Heizung und mit gesprungener Scheibe. Du hast kaum zu Essen bekommen und so wie ich es mitbekommen habe haben dich deine Eltern viel geschlagen." "Aber doch nur weil ich so dumm bin!" verteidigt Jaron sofort seine Eltern. "Wäre ich schlau dann hätten sie mich besser behandelt. Wie Noah." Jaron schaut mich mit seinen grossen blauen Augen flehend an. Ich seufze. "Ich weiss nicht ob sie dich jemals wie Noah behandelt hätten. Immerhin ist Noah ihr leibliches Kind." Jaron schaut mich staunend an. "Was heisst das? Ich hab doch auch einen Leib, oder nicht?" Ich lächle und erkläre Jaron dass er adoptiert wurde. Jaron heult fast. "Mama ist gar nicht meine richtige Mama?" fragt er und ich nicke. Jaron fliessen stumme Tränen. Doch dann sagt er mit ganz ernstem Gesicht: "Jetzt wird mir einiges klar."

Selig sind die hoffnungslosen, denn sie werden nicht enttäuscht. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt