6 Gino

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Und wie sehr der kleine Jaron jemanden braucht wird mir kurze Zeit später so richtig bewusst. Wir müssen nämlich zum Direx weil der mitbekommen hat wie sehr Herr Brandt den Jaron hänselt. Dort erzählt Jaron ganz treuherzig von dem Mobbing dem er sowohl in der Schule als auch daheim ausgesetzt ist. Er erzählt von der Misshandlung durch seine Eltern und Großeltern als sei das normal. Ist es führ ihn ja auch. Er erlebt es täglich und kennt nichts anderes als physische und psychische Pein. Dass er dabei immer noch vertrauensselig und nicht etwa zynisch oder abgestumpft ist liegt an seinem Wesen. Er scheint die Gabe zu haben in seine Träume zu fliehen. Traum, Phantasie und die Realität verschmelzen bei dem Jungen. Er erzählt dass im Keller eingesperrt sein nicht schlimm sei weil dort die Zwerge und Heinzelmännchen wohnen. Die trösten ihn immer und sind nett zu ihm. Wenn er geschlagen wird macht sich sein Teddybär für ihn stark und der schluckt angeblich den Schmerz. Es ist gruselig wie sehr Realität und Traum bei Jaron eins ist. Zum Schluss ist er noch der festen Überzeugung dass ich zaubern könne. „In einem Moment war ich weinend in der Klasse und im nächsten saß ich mit Gino draußen auf der Bank!" erzählt er strahlend. „Du weißt aber dass wir gelaufen sind?" frage ich Jaron ungläubig und er grinst verwirrt. Ich kann ihn nicht davon überzeugen dass ich nicht zaubern kann. Vor allem nicht weil ich ihm Nachhilfe gebe. Ich erkläre Jaron alles was er wissen muss. Na, gut. Ich probiere es. Jaron bringt es allen Ernstes fertig und er zieht 1 und 1 zu 11 zusammen. Seine Logik ist irgendwie süß. Doch er lernt mit mir und in der nächsten Klassenarbeit schreibt er eine Fünf. Jaron freut sich kaputt weil er eine Aufgabe konnte. Als er in der nächsten eine ausreichende Leistung hat strahlt er mich an und umarmt mich. Dann gibt er mir einen seiner zauberhaft unschuldigen Küsse und er sagt allen Ernstes: „Danke dass du mich weniger dumm gezaubert hast." Ich muss ein bisschen Lächeln und umarme ihn zurück. „Ist doch klar, du bist mein Freund." sage ich ihm und sein nächster Satz zerreißt mein Herz: „Gut dass du mich schlau zaubern kannst. Mit so einem Dummen wie ich will ja keiner befreundet sein." Jaron schaut dabei wie ein getretener Welpe. Mir schmilzt mein Herz. Ich werde ganz weich. "Natürlich will ich mit dir befreundet sein. Mir ist es egal wie schlau du bist. Ich will nur nicht dass du noch mal sitzen bleibst weil dann wärst du ja nicht mehr bei mir." Jaron schaut mich mit ganz grossen Augen an und dann fällt der Groschen in Centstücken. Ganz langsam begreift er was ich ihm da gesagt habe und noch langsamer versteht er es. Hat er zunächst traurig geschaut schaut er angestrengt nachdenklich um dann ungläubig zu gucken und zum Schluss zu strahlen wie ein Sonnenschein. Mit seinen blonden Haaren sieht er wirklich aus wie ein Sonnenscheinchen. Er freut sich sichtlich und dann umarmt er mich. "Gino, du bist so lieb! Du bist mein allerallerallerbester Freund!" strahlt er mich an. Er bleibt ein wenig an meiner Brust und ich freue mich einfach dass ich ihn als Freund habe. Mit ihm geht zwar alles nur noch ganz langsam aber dafür entdecke ich die Weltganz neu, das ist phantastisch. Wenn wir einfach nur so durch die Gegend gehen kann er die Schönheit der Welt für mich entdecken. In der trostlosesten Betonwüste findet er die kleinen Mauerblümchen und er freut sich darüber wie ein Kind. Mäuse sind für ihn kein Ungeziefer sondern seine Freunde. Er füttert sie manchmal mit den Brotkrumen aus meiner Dose. Er selber hat ja nie ein Pausenbrot dabei. Doch das macht nichts, ich gebe ihm gerne die Hälfte von meinem ab. Jaron nimmt sie jeden Tag mit grosser Dankbarkeit entgegen. Er isst die einfachen Stullen als seien sie richtig leckeres Essen. Ich hab ihn mal gefragt was er denn sonst so isst und im Vergleich dazu ist das trockene Brot wahrscheinlich echt lecker. Seine Familie ernährt ihn mit den Abfällen die beim Kochen so anfallen. Er bekommt die welken Blätter vom Salat, kann sich mit den Kartoffelschalen zufrieden geben sowie dem was beim Gemüseputzen so anfällt. Ich hab mal beobachtet wie Noah ihm seine Apfelkitsche geschenkt hat und Jaron ihn dafür richtig seelig angelächelt und sich brav bedankt hat. Ich fand das sehr verstörend, doch Jaron war einfach froh etwas in den Magen zu bekommen. Seit dem Noah mein Freund ist ist meine Welt nicht mehr grau. Ich mag jetzt Menschen. Zumindest diesen einen. Ich liebe es die Nachmittage mit ihm zu verbringen und mit ihm entweder in meinem Zimmer zu sitzen und zu lernen oder mit ihm draussen zu spielen. Jaron liebt Rennspiele. Stundenlang kann er Bordsteinrennen spielen. Das ist eigentlich ein total beklopptes Spiel: man muss mit einem Fuss auf dem Bordstein gehen, mit dem anderen auf der Strasse. Da wir das nur hintereinander spielen können laufe ich meist neben ihm her. Ich hinke dann zwar nicht aber wir können uns unterhalten. Jaron nimmt mich auch immer mal mit in seine Phantasiewelt. Wenn wir abends im Dunkeln durch den Park gehen sieht er an jeder Ecke Elfen, Feen und Trolle. Er kann stundenlang von den Schmetterlingen erzählen und wohin die Vögel ziehen. Er erzählt so lebendig als sei er der Vogel der nach Süden zieht. Was er dort erlebt ist meist phantastisch. Ich liebe seine Geschichten, vor allem weil sie nicht alle gut ausgehen. Manchmal gerät der kleine Vogel mit dem wir einen ganzen Sommer erlebt haben in die Fänge einer Katze die ihn frisst. Der Schmetterling erfriert letztlich und die Elfen werden von den Zwergen angegriffen. Die kleine Fee wird mit einem bösen Zauber belegt und die Trolle sind eh doof: sie sorgen dafür dass man hinfällt und sich weh tut. "Stolpertrolle" nennt Jaron diese fiesen kleinen Männchen, die sich seiner Meinung nach von unseren Tränen ernähren. Ich habe immer gedacht dass Jaron die Geschichten sich willkürlich ausdenkt. Aber dann habe ich einen furchtbaren Verdacht: Als ich eines Tages in der Umkleide zum Sportunterricht seinen grün und blau geschlagenen Rücken sehe weiss ich dass die Geschichte die er heute erzählt böse endet. Und wirklich, der kleine Drache der uns in den letzten Wochen besucht hat ist von einem Ritter umgebracht worden. "Was für ein böser Ritter!" rege ich mich auf. Jaron schaut mich mit einem unsicheren Blick an. Er scheint meine Reaktion nicht zu verstehen. "Der Ritter dachte aber dass der Drache böse ist." erklärt er mir. "Aber du und ich, wir wissen dass der Drache ein netter Drache war." erwidere ich. Jaron nickt und er meint leichthin: "Aber nur du und ich wissen das. Alle anderen Menschen mögen Ritter die Drachen töten. Ritter werden gelobt wenn sie böse Drachen erschlagen und sie dürfen dann Prinzessinnen heiraten."

Selig sind die hoffnungslosen, denn sie werden nicht enttäuscht. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt