43 Gino

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Als der Arzt mir die Diagnose nennt bin ich wie vor den Kopf gestossen. Ich habe ein hochmalignes Non Hodgkin Lymphom. Leider schon sehr weit fortgeschritten. Das heisst bei mir sind schon Organe und auch das Knochenmark befallen. Meine Heilungschancen sind gering. Natürlich sagt mir das keiner. Alle reden davon dass es gut heilbar sei, aber mal im Ernst: auch bei so heftigem Befall? Jaron schaut die ganze Zeit wie ein verschrecktes Kaninchen. Ich glaube nicht dass er versteht was wir hier besprechen. Eigentlich besprechen wir meinen Tod, bzw. die Zeit vor meinem Tod. Wie will ich diese Zeit nutzen? Will ich wirklich kotzend, leidend und jammernd im Krankenhaus sein um ein paar Tage länger auf dieser Erde zu verweilen oder möchte ich noch eine schöne Reise mit Jaron machen? Die letzte war traumhaft. Wir haben die gemeinsame Zeit richtig intensiv genutzt. Wir haben alles gemeinsam gemacht. Gegessen, geschlafen, gelacht und uns geliebt. Wenn ich daran denke dass es erst ein paar Wochen her ist wird mir ganz anders. Es fühlt sich an als sei das in einer anderen Welt gewesen. Eine, die glücklich war. Ich weiss nicht was besser ist. Jaron an meinem Leiden teil haben zu lassen oder es so gut wie möglich zu unterdrücken und ihn dann von jetzt auf gleich alleine zu lassen. Jaron hat AIDS. Auch das ist eine sehr heftige Krankheit und ich bin so traurig dass ich sie wahrscheinlich nicht mit ihm gemeinsam in den Griff bekommen werde. Jaron wird die Medikamente sein Leben lang regelmässig einnehmen müssen. Wird er das schaffen ohne mich? Wer wird meinem Liebling helfen wenn ich nicht mehr da bin? Wird Jaron ohne mich zurecht kommen? Oder landet er wieder unter der Brücke? Oh, Gott, Nein! Ich muss das alles für ihn regeln bevor ich es nicht mehr kann. Der Doc hat gesagt dass er schon morgen mit der Therapie starten möchte. Doch das geht nicht. Ich werde mir noch eine Woche ausbitten. Eine Woche in der der blöde Krebs halt wächst. Doch ich brauche einfach einen guten Betreuer für meinen Kleinen. So etwas organisiert man nicht zwischen Tür und Angel. In der Nacht bin ich am Ende meiner Kräfte. Meine Gedanken machen mich fertig und ich muss weinen. Ich strenge mich an möglichst leise zu sein aber Jaron wacht davon trotzdem auf. Und dann ist mein Kleiner einfach nur für mich da. Er hält mich und gibt mir Mut. Er macht mir keine falschen Hoffnungen und sagt auch nicht dass ich den Krebs besiegen werde. Er ist realistisch genug um zu verstehen dass ich am Ende angekommen bin. Jaron weint nicht. Diesmal nicht. Er hält mich und tröstet mich und dann verspricht er mir bei mir zu bleiben. Bis zum bittren Ende. Ich kann mich ihm anvertrauen. Ich darf kotzen und jammern und klagen und Schmerzen haben und fertig mit schön schreiben sein. Jaron wird mich nicht verlassen und ich bin mir sicher dass ich in seinen Armen sterben werde. Ja, das wünsche ich mir. Dass ich in seinen Armen bin und in seine himmlischen blauen Augen noch ein letztes mal sehen darf. Ich liebe seine Augen. Die haben mich schon an unserem allerersten Tag fasziniert. Ich liebe diesen Jungen einfach so sehr. Und nun noch mal mehr. Er ist so zart und lieblich und ich will ihn immer beschützen. Doch das geht nicht. Jetzt beschützt er mich und das ist eigentlich auch schön.

Am nächsten morgen machen wir den Ärzten klar dass wir gehen werden. Wir werden das Krankenhaus für eine Woche verlassen damit ich regeln kann wer nach meinem Tod für Jaron zuständig ist. Ich benötige jemanden der gut zu ihm sein wird und der ihn auch auffangen kann wenn er wegen meinem Tod traurig ist. Jemand der ihn im Alltag begleitet und ihm seine Medikamente regelmässig gibt. Ich denke an Chris. Darum gehen wir zu ihm und treffen uns mit ihm in einem Cafe zum Frühstück. Ich frage Chris ein wenig aus was er davon halten würde wenn er sich um jemanden kümmern müsste. Chris lacht mich fast aus. Also nicht wirklich. Aber er legt mir seinen Standpunkt deutlich dar: er belastet sich nicht mit anderen Menschen. Wer ihm nichts nützt den beachtet er nicht. Chris würde sich nie um jemanden kümmern. Ich glaube nicht dass er ein geeigneter Betreuer für Jaron wäre. Er würde Jaron sein Geld weg nehmen und ihn ausnutzen. Wahrscheinlich würde er Jaron zwingen regelmässig die Tabletten zu nehmen damit er möglichst lange lebt und Chris von Jarons Talent leben kann. Doch er wäre nicht liebevoll zu meinem Kleinen. Er würde nicht verstehen wie er leidet und trauert. Nein, Chris geht nicht. Darum verabschieden wir uns bald und wir suchen Marlene auf. Wir gehen mit ihr zum Mittag essen und bei ihr ist es das selbe: Sie würde sich gerne auf Kosten von anderen bereichern aber wirklich kümmern mag sie sich nicht. Geknickt gehen wir heim. Eigentlich würde ich nun nur ein wenig zu Abend essen und dann ins Bett fallen aber Jaron bittet mich mit ihm und Stitch einen Spaziergang zu machen. So richtig schön die letzten Frühlingssonnenstrahlen geniessen. Das machen wir auch und wir gehen an unserem See spazieren. Dort wo wir fast jeden Tag mit unserem Hund sind. Doch heute geniessen wir den Spaziergang. Es ist so schön. Wie gerne würde ich mit Jaron ein Leben vor mir haben um Stunden wie diese mit ihm zusammen verbringen zu können. Traurig nehme ich die Hand von meinem Liebling und küsse ihn. "Ich hab dich lieb, Gino. Ich möchte bei dir bleiben." sagt Jaron und ich lächle. "Umgekehrt wird ein Stifel daraus." sage ich grinsend. Er möchte wohl dass ich bei ihm bleibe. Jaron schaut mich aus seinen unverschämt blauen Augen an und schüttelt vorsichtig seinen Kopf. "Nein, ich möchte bei dir bleiben und mit dir mitgehen. Wohin immer du auch gehst. Bitte nimm mich mit." Ich verstehe nicht so ganz was er meint und er erklärt es mir während die Vögel zwitschern und die Insekten brummen. Das Leben feiert seine Widergeburt und Jaron plant seinen Tod: "Ich will mit dir zusammen sterben. Ohne dich fühle ich mich hier nicht wohl. Ich will bei dir bleiben, im Leben wie im Sterben." Ich schaue meinen Liebling lange traurig an. "Jaron, ich weiss nicht ob das gut ist. Wer kümmert sich dann um Stitch?" frage ich und Jaron nickt geknickt. "Aber ich bleibe von nun an immer an deiner Seite, ja?" fragt er etwas hoffnungsfroh und ich nicke. Ich bin glücklich dass mich Jaron begleiten will.

Selig sind die hoffnungslosen, denn sie werden nicht enttäuscht. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt