Es herrscht der ganz normale Wahnsinn. Die Kids haben sich natürlich beim Fussball geklopt und Per hat nun eine gebrochene Nase und musste mit Dani ins Krankenhaus. Ich kann also das Abendprogram alleine bestreiten. Na, super! Gino kommt zum Glück rechtzeitig heim. Ich hätte keine Kapazität ihn suchen zu gehen. Er freut sich und grinst mir zu. Sein Telefon klingelt und er geht stolz mit einem fetten Grinsen im Gesicht dran. Doch das Grinsen gefriert ihm "Tom!" keucht er und eilt zu mir. Er gibt mir sein Telefon und ich höre heftige Schreie und offensichtlich einen Jungen der vertrimmt wird. Oh, nein! Muss das denn ausgerechnet jetzt sein wo ich alleine bin? Ich höre dem grauenhaften Szenario noch ein paar Sekunden zu und dann frage ich Gino ob er denn wüsste wer das ist. Gino weint und nickt. "Das ist Jaron." Ok, der Bub scheint einen Freund zu haben und so wie es aussieht hat der nun das zweite Telefon. Ich lasse mir Jarons Adresse geben und dann rufe ich die Polizei an. Unmittelbar danach rufe ich meinen Nachtdienst an ob er nicht ein wenig früher hier auftauchen könnte. Dani musste ins Krankenhaus und der dritte Mann hat sich krank gemeldet. Zum Glück hat Kai sowohl die Zeit als auch Lust ein wenig eher zu kommen. Ich telefoniere mit der Mädchengruppe die heute zwar eben so knapp wie wir besetzt ist aber da sie noch keinen Notfall haben sind die noch zu zweit. Als die Polizei eintrifft kann mich eine Kollegin in meiner Gruppe vertreten. Ich gehe mit den Polizisten zu besagter Adresse und ein Streifenwagen ist offenbar schon vor Ort. Seltsam, die sind noch im Haus. Normalerweise nehmen die die Kinder in Obhut und warten vor der Tür auf die Mitarbeiter des Jugendamts, bzw. nach Feierabend halt auf den Notruf, also mich. Oder Erzieher wie mich. Wir müssen dann die traumatisierten Kinder in Empfang nehmen und in die verschiedenen Einrichtungen bringen. Jugendliche können bei uns bleiben, falls wir einen Platz frei haben, Kinder werden in Einrichtungen für die Kleinen gebracht. Babys meist zu Bereitschaftspflegeeltern. Und das alles zu organisieren, die Einrichtungen anzurufen und um einen Platz zu betteln bleibt an mir hängen. Ich bin gespannt was mich nun erwartet.
Ich weiss nicht was ich erwartet habe. Nach dem Telefonat mit Ginos Handy sicher nichts nettes, aber das was ich dann zu sehen bekomme hat an Brutalität meine gesamte Phantasie gesprengt. Der Junge ist an so eine Art Rad gebunden. Es sieht ein bisschen so aus als wäre er gerädert worden. Seine Arme sind schon durch die Speichen "geflochten" und der Vorschlaghammer mit dem die Knochen des Jungen gebrochen wurden, ist in der Hand eines Polizisten, der so aussieht als wolle er dem Mann der in Handschellen bei seinem Kollegen steht den Kopf damit einschlagen. Der Junge ist leichenblass und auf seiner nackten Haut sind Striemen die davon zeugen dass er ausgepeitscht wurde. Der Knabe sieht grotesk aus und ich bin dankbar dass er ohnmächtig ist. Er scheint zu leben, denn er ist noch nicht leichenblass und sein Oberkörper hebt und senkt sich. Er atmet. Die Polizisten mit denen ich angekommen bin schlagen sich entsetzt die Hände vor den Mund. Unglaublich. Unlaublich dass es Menschen gibt die so etwas anderen Menschen antun können. Auf die Frage: "Warum?" sagt der gefesselte Mann giftig: "Er hat unser Haus angezündet! Wären wir nicht eher nach Hause gekommen sässen wir vermutlich auf der Strasse." Geistesgegenwärtig telefoniert einer der Polizisten mit der Rettungsstelle. Der Notarzt muss kommen. Wir werden den Jungen bestimmt nicht von dem Rad lösen können. Der Polizist schildert den Fall und so beschrieben wird mir schlecht. Obwohl ich sehe wie der Bub aussieht, dreht es mir den Magen um als ich beschrieben bekomme in was für einem Zustand der Knabe ist. Ich muss dringend brechen gehen und darum renne ich die Kellertreppe rauf. In der Küche treffe ich Gino der etwas zu suchen scheint. Was machst du denn hier?" frage ich den Jungen perplex und der strahlt. "Es ist hier drin! Es muss irgendwo hier in der Küche sein." sagt er und sucht weiter. "Was suchst du?" frage ich und Gino antwortet während er die Arbeitsfläche scannt: "Jarons Handy." Und dann hat er es hinter der Küchenrolle gefunden. Er nimmt es an sich und schaltet es aus. Er schaut mich an und fragt: "Wo ist Jaron?" Ich mag dem Jungen nicht sagen was dort unten im Keller ist. Doch ich befürchte dass wenn ich schweige er runter rennen würde. Also schnappe ich mir das Bürschchen und sage: "Jaron ist ohnmächtig im Keller. Er wurde heftig mishandelt." Gino nickt als verstünde er. Er sagt: "Ich habe vorhin seine Peitschenstrimen und die Brandblasen gesehen. Jaron erzählt gerne Geschichten. Und ich glaube ich habe heute begriffen dass wenn seine Geschichten schlimm enden er mishandelt wurde. Er erzählt oft Geschichten die traurig enden." Gino schaut mich an und ich muss schlucken. "Heute wird er keine Geschichte erzählen." sage ich leise. Gino nickt. "Wenn er ohnmächtig ist geht das wohl kaum." Ich nicke und es trampeln ein paar rot weiss gekleidete Männer an uns vorbei. Sie haben schweres Gerät dabei und riesige Rucksäcke auf ihren Rücken. In den Rucksäcken sind Medikamente und alles mögliche um Leben zu retten. Die Sägen benötigen sie um Jaron von diesem Rad zu schneiden. Ich nehme Gino und wir warten lieber vor dem Haus. Gino schaut auf sein Handy und er sagt traurig: "Jaron hat nur noch einen Euro Guthaben." Ich weiss nicht ob ich lachen oder weinen soll. Das Handy hat wahrscheinlich dem Jungen da unten im Keller das Leben gerettet. Hätten wir ihn nicht gehört als der Streit in der Küche eskaliert ist hätte der Vater den Jungen wahrscheinlich komplett aufs Rad gespannt. Ob er das überlebt hätte wage ich zu bezweifeln. Doch für Gino sind neun Euro die Welt. Er hat so gut wie nichts. Dass das Telefon so lange an war ist für ihn eine Katastrophe. Ich nehme den traurigen Jungen in den Arm und tröste ihn. "Das sind wahrscheinlich die am besten angelegten neun Euro gewesen. Ohne dieses Telefon wäre Jaron vermutlich tot, hm?" Gino schaut mich entsetzt an und dann nickt er betreten. Er weiss zum Glück nicht was seinem Freund passiert ist. Ich zücke mein Portmonnaie und drücke Gino zehn Euro in die Hand. "Kauf Jaron davon neues Guthaben, ja?"
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Selig sind die hoffnungslosen, denn sie werden nicht enttäuscht.
RandomJaron lebt seit er denken kann im Schatten seines Bruders Noah. Noah ist intelligent, sieht gut aus, ist beliebt und der ganze Stolz seiner Eltern. Jaron ist Jaron. Er träumt gerne und im Traum kann er lesen und rechnen, dann hänseln ihn nicht alle...