Das Urteil

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Der grosse Thronsaal war in eine gespenstische Stille gehüllt. Kein Laut war zu hören – weder von Frigga, die am Fusse des mächtigen goldenen Thrones stand noch von dem alten weissbärtigen Mann, der stolz und kerzengerade darauf sass. Odin wartete ruhig und einer Statue gleich darauf, dass die Saaltüren sich öffneten und sein Sohn hereingeführt wurde, und wäre nicht der dunkle Schatten auf seinem Gesicht gewesen, hätte man ihn für gänzlich unberührt halten können.

Melinda konnten die beiden natürlich nicht sehen. Nicht einmal Frigga mit ihrer Magie. Ein Glück, denn sie hätten kaum einen Menschen hier haben wollen. Doch der Tarnanzug funktionierte wie immer perfekt – was die junge Frau nicht wunderte, denn schliesslich hatte ihn Tony Stark persönlich entworfen. Aber obwohl ihr klar war, dass sie keiner sehen konnte, weil der Anzug sie unsichtbar machte, war sie sich doch nur zu sehr darüber im klaren, dass man sie  immer noch hören konnte... sollte sie denn so unvorsichtig sein und irgendwelche Geräusche von sich geben.

Ein lautes Knarren riss Melinda aus ihren Gedanken: die breiten Türen zum Saal schwangen sich auf! Sie holte tief Luft und spannte jeden Muskel in ihrem Körper an. Das hier war die Stunde ihres grössten Triumphes, und sie wollte sie geniessen.

Leider war es auch die Stunde ihres grössten Schmerzes...

Er war, wie ihr schien, noch etwas blasser als gewöhnlich, aber ruhig, als er, flankiert von zwei Wachen, hereingebracht wurde. Die Szene wirkte gespenstisch und hätte absolut geräuschlos sein können – wäre da nicht das Klirren der Ketten zu hören gewesen, die der Gefangene trug. Ziemlich viele Ketten, wie Melinda mit Genugtuung feststellte: nicht nur an Händen und Füssen, sondern auch um den Hals hingen sie schwer an seinem Körper. Ihr Herz tat einen Sprung vor Freude... doch leider blieb es vor Schreck auch einen Moment lang stehen. Ihn so zu sehen tat – sie hätte sich selbst dafür ohrfeigen können – unerwartet weh!

Frigga riss die junge Frau aus ihren widersprüchlichen Gedanken, als sie einen Schritt nach vorne trat und ihren Sohn ansprach. «Loki...» begann sie, wurde von diesem jedoch unterbrochen. «Hallo Mutter,» meinte er gleichmütig, «habe ich dich stolz gemacht?»

Melinda glaubte, sich verhört zu haben. War er verrückt? Wusste er nicht, wie gefährlich, ja geradezu wahnsinnig es war, in seiner Situation so etwas Zynisches zu sagen? Oder machte er sich – was wohl wahrscheinlicher war, wir ihr schlagartig klar wurde – lustig über die Anwesenden? Über Odin, genauer gesagt, denn sie konnte er ja nicht sehen und Frigga schaute er nur kurz an, ehe sein Blick zu seinem Vater schweifte.

«Mach es bitte nicht noch schlimmer, Loki» sagte Frigga leise und lenkte damit die Aufmerksamkeit ihres Sohnes wieder auf sich.

«Schlimmer?» Loki zog eine Braue hoch, und Melinda musste sich extrem zusammen reissen, um keinen Mucks von sich zu geben. Verflixt, warum sah er immer noch so atemberaubend gut aus? Sogar jetzt, in einer solchen Situation? «Definiere das genauer!»

«Loki, bitte...» Man merkte Frigga an, dass es ihr ähnlich ging wie der unsichtbaren Zuschauerin: dass sie nicht fassen konnte, wie man in einem solchen Moment noch derart ironisch sein konnte.

Doch Odin hinderte seine Frau an weiteren Worten und verlangte, mit dem Gefangenen alleine zu sprechen. Er sagte «Gefangener» und nicht Sohn, und das erste Mal huschte so etwas wie Unsicherheit über Lokis Züge. Nur ganz kurz, ehe er nach vorne trat und die Beine zusammenschlug, sodass die Ketten aneinanderstiessen und einen metallisch-schrillen Ton von sich gaben.

«Ernsthaft, ich frage mich, warum hier alle so ein Theater veranstalten!» versetzte er lachend.

«Weisst du wirklich nicht, wie schwerwiegend deine Verbrechen sind?» fragte Odin schneidend scharf und neigte sich ein wenig nach vorn. «Wo du auch hingehst: überall herrschen Chaos, Tod und Verderben.»

Loki: The Dark Prince - Der dunkle PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt