Kapitel 9

496 16 4
                                    

Ich stehe erneut vorm Ganzkörperspiegel und begutachte mich. Diesmal jedoch nicht meinen mit Blutergüssen übersäter Körper, sondern mein Anblick im Allgemeinen.
Die letzten Tage habe ich mich nicht um mein Aussehen geschert, weshalb mich mein eigener Anblick ein wenig schockt.
Unsicherheit packt mich plötzlich. Sehe ich zu aufreizend aus?
Meine blauen Flecken werden durch die langen Arme verdeckt. Meine Beine sind ein wenig frei und entblößen zwei Ergüsse an den Schienbeinen. Aber an diesen Stellen erleiden viele eine Stoßverletzung, somit nichts Auffälliges.
Ich schlüpfe in schwarze Stiefel, werfe mir einen beigen Mantel über und greife nach meiner schwarzen Umhängetasche, aus welcher ich meinen Schlüsselbund hole. Ich umklammere fest mein Pfefferspray, welches sich an dem Bund befindet.
Gott, ich bin so paranoid geworden. Sogar meine Fenster lasse ich immer geschlossen, wenn ich sie nicht genau im Blick habe, obwohl sich meine Wohnung im hohen Stockwerk befindet. Über die verbarrikadierte Eingangstür will ich nicht erst anfangen.
"Okay, du schaffst das.", rede ich mir Mut zu und öffne langsam, aber sicher dir Haustür. Das Treppenhaus ist zwar sehr modern, wirkt in dem schummrigen Licht und den Sonnenstrahlen, die auf die Stufen fallen, dennoch beängstigend. Ich wohne im dritten Stockwerk, weshalb ich ein paar Treppenstufen gehen muss. Es gibt zwar einen Aufzug, aber dieser wäre mir zu riskant und für einen eventuellen Fluchtversuch unmöglich. Die Treppen sind es also ...
So schnell ich kann sprinte ich die Stufen hinunter und überspringe dabei einige.
Draußen angekommen umhüllt mich die frische Abendluft. Ich atme auf, da sich die Sonne noch am Horizont befindet und mitten am untergehen ist. Dennoch umklammere ich immer noch mein Pfefferspray.
Das Restaurant ist zu Fuß nicht weit entfernt. Wenn man zügig geht sind es nur fünf Minuten. Am liebsten würde ich fahren, aber fuck, mein Auto steht noch auf dem Uni Gelände, da Amy darauf bestand mich heute zu fahren, in der Hoffnung, dass sie erneut etwas aus mir rausquetschen könnte. Fazit: Es ging erfolglos für sie aus.
Mit großen Schritten gehe ich los und mache mich auf dem Weg. Dabei beobachte ich aufmerksam meine Umgebung. Ich zucke zusammen, sobald mich Menschen passieren und bemerke, wie meine Atmung schwerer wird.
"Ich brauche, nur kurz, eine Pause.", murmle ich und lehne mich an eine kühle Hauswand.
Du bist fast da, Chloe. Nur noch einige Meter und du hast es geschafft.
"Okay. Okay, okay, okay." Ich komme mir vor wie eine Verrückte, die mit sich selbst spricht. Nur bin ich nicht verrückt, sondern paranoid und verängstigt. Mein Vertrauen in Menschen - vor allem in Männer - hat sich in Luft aufgelöst.
Mit schnellen Schritten erreiche ich endlich das feinste und auch gleichzeitig teuerste Restaurant in ganz Boston. Es heißt Richie's und erinnert mich an gute Zeiten und tolle Erlebnisse mit meiner Familie.
Wir gingen dort früher so oft wie möglich Essen und ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als mein Vater meiner Mutter einen Heiratsantrag machte.
Amy und ich sind wie die Hühner durch das Restaurant gerannt und haben allen Gästen erzählt, dass unsere Eltern verlobt sind.
Es hat uns nicht gestört, dass viele der Gäste genervt von unserem Verhalten waren. Im Gegenteil, wir lachten einfach nur und lebten im Moment. Das waren wundervolle Zeiten, an welche ich mich gerne zurück erinnere. Doch mit der Zeit fingen Mom und Dad an mehr zu arbeiten und diese Momente wurde immer seltener, dennoch blieben sie wertvoll.
Daher muss ich schmunzeln, als ich das Restaurant betrete und es immer noch so wie früher ist. Nach über zehn Jahren hat sich nichts verändert.
Der Boden ist zwischen den Tischen mit einem roten Teppich ausgelegt und zweigt am Ende in verschiedene Richtungen ab. Die linke Abzweigung führt zu den Toiletten, während die rechte zur steinigen Bar entspringt, mit ihren bunten Hockern. Geradeaus führt der Teppich direkt zur Küche, wo man die besten Gerüche wahrnehmen kann. Außerhalb des Teppiches stehen wunderschöne Holztische, welche mit weißen Stoffservietten und glänzendem Silberbesteck gedeckt sind. Die dazu gehörigen Stühle sind mit einheitlichen Brokatkissen aus weichem Satinstoff in einer cremigen Farbe perfekt auf die Stuhlfläche abgestimmt. Über jedem Tisch hängt außerdem ein winziger Kronleuchter mit verspielten Perlenapplikationen und hinterlässt ein gedämmtes, warmes Licht.
Direkt im Eingangsbereich empfängt ein Kellner die Gäste, um sie anschließend an ihre Plätze zu führen.

"Es tut mir wirklich Leid, aber wir sind komplett ausgebucht und haben unglücklicherweise keinen Platz mehr für Sie frei.", erklärt der Kellner mit einem bedauernswerten Blick.
"Können Sie nicht nochmal nachschauen?", flehe ich ihn an.
"M'am, ich habe bereits zum zweiten Mal die Reservierungen kontrolliert und wir sind ausgebucht. Es tut mir wirklich leid."
"Nein!", entfährt es einem Mann, "Bei mir ist noch ein Platz frei, wenn es für Sie und natürlich der jungen Dame nichts ausmacht."
Ich schaue über die Schulter des Kellners und erblicke einen jungen Unbekannten, welcher alleine an einem Zweiertisch sitzt und mich angrinst. Er grinst. Wie Kyle es tat ...
Der Kellner erwidert verwirrt seinen Vorschlag und schaut mich an.
"Wenn es für Sie kein Problem darstellt, können sie sich gerne zu dem netten Herrn setzen."
Ich werde mit dieser Frage überrumpelt und fasse die Situation in meinem Kopf zusammen. Ich soll mich zu einem Mann setzen, den ich noch nie in meinem Leben begegnet bin und dessen Absichten ich nicht kenne? Gott bewahre! Dann kann ich mir gleich mein eigenes Grab schaufeln.
Aber irgendetwas in seinem Blick ist weich. Sind es seine Augen? Oder doch seine guten Schauspielkünste, um mich um den Finger zu wickeln und mich anschließend ... verdammt nochmal.
Ohne weiter darüber nachzudenken, leitet mich mein Bauchgefühl, weshalb ich bejahend nicke und mich zu dem unbekannten Mann setze, welcher mich immer noch angrinst.
Ich weiß nicht so ganz, wie ich mich fühlen oder was ich sagen soll, nachdem mein letztes Erlebnis mit Männern eine Narbe in meiner Psyche hinterließ. Ich habe Angst. Mein Atem verschnellert sich. Lenk dich ab, Chloe!
Ich betrachte ihn daher ganz genau und kann spüren, wie auch er mich mustert.
Jedoch kann ich die genauen Details seiner Gesichtszüge, durch das schwache Licht, schwer erkennen.
Daher untersuche ich die offensichtlichen Merkmale. Seine rötlich schimmernden Locken hängen ihm ein wenig im sommersprossigen Gesicht und seine haselnussbraunen Augen durchdringen meinen Körper und lösen eine gewisse Wärme in mir aus.
Meine Atmung wird langsamer. Wie macht er das?
Er ist sehr fein gekleidet und auch breit gebaut. Er ist vermutlich stark und kann mich in Ecken drängen. Oh Gott, das hat er bestimmt vor! Ich mache genau denselben Fehler und vertraue einem Mann zu früh.
Okay Chloe, stell dir einfach vor, du kennst ihn. Wir haben ein ganz normales Dinner zusammen. Das haben doch viele ... oder nicht?
Endlich wird die unangenehme Stille und das harte Eis durchbrochen, als er anfängt zu reden "Also, wie heißen Sie eigentlich?", fragt er neugierig, wodurch ich wieder etwas nervös werde.
"Äh, lass uns lieber beim Du bleiben. Ich ähm heiße Chloe, und du?"
"Chloe. Schöner Name.", entgegnet er mir, während er sich gelassen eine lockige Strähne aus dem Gesicht streift. Ich beobachte dabei unauffällig seine Hand, welche zart und männlich zugleich wirkt.
Plötzlich legt sich ein Schalter in meinem Kopf um und ich stelle mir vor, wie sie meinen Körper entlang gleiten und meine empfindlichsten Stellen berühren. Wow, mach mal Halblang, Chloe!
Es ist nicht zu fassen, dass ich direkt auf solche Gedanken komme, weil ein gutaussehender Typ in meiner Nähe ist oder eher gesagt direkt vor mir sitzt.
Schwärmereien sind jedoch immer erlaubt. Davon muss keiner was erfahren.
Und das erste Mal seit Tagen bin ich auf andere Gedanken gekommen. Ich habe mir sogar eine kleine Schwärmerei in meinem Kopf ausgedacht. Wie ist das möglich? Ich sollte das nicht zulassen. Das hier ist total falsch. Ich sollte-
"Entschuldigung. Wo bleiben meine Manieren? Ich heiße Damian.", unterbricht er meine Gedanken.
Damian? Was ein besonderer Name.
"Das ... kann ich nur zurück geben", murmle ich vor mich hin und erkenne aus dem Blickwindel, wie er lächelt.
Sein Lächeln wirkt so unschuldig und brav, als wenn er keiner Menschenseele Leid antun würde.
Sein Lächeln gibt mir Geborgenheit. Doch auch Kyles Lächeln vermittelte mir dieses Gefühl und ich lag falsch. Was, wenn ich mich erneut täusche?
Der Zwiespalt bringt mich noch um.
Ich blicke in Damians schokoladigen Augen und verliere mich in ihnen.
Es sind Sekunden, in welchen wir uns einfach nur in die Augen blicken und nichts sagen, sondern den Moment einfach nur genießen.
Und dieser intensive Blickkontakt vermittelt mir etwas anderes. Etwas Gutes. In seinen Augen liegt Ruhe und Gelassenheit, welche auf mich abfärben. Ich erkenne keinen Anschein von Wut oder Hass. In seinen Augen tobt kein Sturm.
Nach diesem Augenkontakt weiß ich, dass es ein wunderschöner Abend wird und ihn mir keiner nehmen kann.

Nach diesem Augenkontakt weiß ich, dass es ein wunderschöner Abend wird und ihn mir keiner nehmen kann

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.
Right or Wrong? (WIRD ÜBERARBEITET)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt