Kapitel 2

309 36 31
                                    

Ein Blick in den Spiegel genügte, um zu sehen, wie ungeordnet und chaotisch mein Leben momentan verlief. Das enganliegende, blaue Kleid, das ich vor einem Monat gekauft hatte, war nunmehr alles andere als enganliegend. Egal, wie sehr ich versuchte, das Kleid zurecht zu rücken, es wirkte falsch und aufgesetzt an mir. Die Blässe, die vor wenigen Wochen meinen Körper geziert hatte, war unwiderruflich einem Goldton gewichen. Die Ringe unter meinen Augen, die trotz reichlich Makeup immer noch hervorlugten, deuteten an, wie viele Nächte ich mit dem Buch und meinen eigenen Experimenten verbracht hatte. Das Schlimmste jedoch war das Nest auf meinem Kopf, das ganz und gar nicht nach Hollywood schrie.

Ein leiser Seufzer entwich meinen Lippen, als ich daran dachte, wessen Schuld das war.

Seit der Auseinandersetzung mit Suz hatte ich es nicht übers Herz gebracht, mich bei ihr zu melden. Auch von ihr war seitdem kein Lebenszeichen zu mir durchgedrungen. Ich lächelte ob unserer Sturheit. Seit ich denken konnte hatte Suz mich für wichtige Anlässe frisiert und meine lockige Mähne in so manch wunderschöne Frisuren verwandelt. Jetzt musste ich damit rechnen, dass Suz nicht einmal mehr auf meine Vernissage kommen würde. Damit bestand die Möglichkeit, dass die körperliche Veränderung meinerseits nicht die einzige Änderung in meinem sonst von Konstanten geprägten Leben darstellen würde.

Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Es war meine Oma, die mitleidig durch den Türspalt zu mir blickte.

"Bist du soweit?"

Mein Blick fixierte wieder mein Spiegelbild, das überhaupt nicht nach mir selbst aussah. Wie eine Fremde zupfte ich am Saum des Kleides, das einfach nicht richtig sitzen wollte.

"Ich bin in ein paar Minuten bei euch."

Das leise Schließen der Tür machte mir bewusst, dass ich den Atem angehalten hatte. Als wäre es die größte Erleichterung der Welt, wieder alleine in meinem Zimmer zu sein, stieß ich die angestaute Luft aus. Mein Blick wanderte zu meinem Smartphone, das auf meinem Schreibtisch lag. Obwohl ich bereits von hier sehen konnte, dass ich keinerlei Nachricht hatte, die sonst durch ein Leuchten der kleinen Lampe über dem Display angezeigt werden würde, musste ich noch einmal sicher gehen. Ich entsperrte den Bildschirm, nur um ernüchternd festzustellen, dass ich tatsächlich keinerlei Nachricht erhalten hatte. Nicht von Suz. Nicht von meinen anderen besten Freunden. Und nicht von Gabe.

Obwohl ich es vor niemandem zugegeben hätte, störte mich dieser letzte Umstand am meisten. Mit Suz hatte ich schon oft Auseinandersetzungen gehabt und ich wusste, dass wir uns irgendwann wieder vertragen würden. Gabe jedoch war eine ganz andere Hausnummer. Bei dem Gedanken an ihn spürte ich, wie mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Ich sah sehnsüchtig zu dem Nachttisch, wo der Brief von ihm sicher in der letzten Schublade verstaut war. Ich sehnte mich sehr danach, das mittlerweile zu oft geknickte Papier in meinen Händen zu spüren, den leichten, kaum vernehmbaren Duft von Gabe einzuatmen, der von dem Brief ausging und die letzten Absätze des Papiers zu lesen, obwohl ich sie mittlerweile auswendig kannte.

Seitdem ich wieder in Deutschland war hatte ich es nicht übers Herz gebracht, ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Als eine, meiner Meinung nach gute, Ausrede benutzte ich stets die Tatsache, dass ich zu sehr mit dem Buch beschäftigt war, aus dem ich immer noch nur teilweise schlau geworden war. Doch das hieß noch lange nicht, dass ich nicht enttäuscht darüber sein konnte, dass er nicht gegen seinen eigenen Schwur verstieß und sich bei mir meldete.

Ein letzter Blick in den Spiegel reichte aus, um mich dem Hier und Jetzt zu stellen. Ich nahm die farblich passende Clutch vom Schreibtisch und stolzierte langsam die Treppe hinunter. Vor der Haustür warteten bereits meine Großeltern auf mich. Auch wenn sie mir aufmunternd zulächelten verrieten ihre Augen, wie sehr ihnen die Änderung von meinem Körper und, seien wir mal ehrlich, meinem Charakter missfiel. Um ihnen etwas die Sorgen zu nehmen, setzte ich ein strahlendes Lächeln auf. Es reichte bereits, dass ich mir nicht erklären konnte, was mit mir geschah. Da musste ich das nicht auch noch an allen Anderen auslassen.

Phönixchroniken - Entflammen ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt