Kapitel 4

323 38 49
                                    

Die Autofahrt nach Hause hatte sich gezogen wie zähes Kaugummi. Die fragenden Blicke meiner Großeltern ignorierte ich gekonnt. In den letzten Tagen musste ich öfter so tun, als ob alles in Ordnung war, obwohl es das ganz und gar nicht war. Bei dem Gedanken, wie ich meine liebsten Mitmenschen von Tag zu Tag ein Stückchen mehr verlor, ließ mein Herz schmerzhaft zusammenziehen. Tränen brannten in meinen Augen und ich musste meine ganze Kraft zusammennehmen, dass ich nicht wie ein Häufchen Elend auf der Rückbank zusammenbrach.

Ich rechnete es meinen Großeltern hoch an, als sie mich ohne Fragen in mein Zimmer gehen ließen. Das Schließen der Tür hinter meinem Rücken war der letzte Riegel, der meine Gefühle im Zaum gehalten hatte. Sofort rannten mir Tränen über die erhitzten Wangen. Die Schluchzer überdeckte ich so gut es mir möglich war mit meinen Händen. Kalte, blaue Augen und ein verräterisches Grinsen ließen meinen Körper vor Furcht zusammenzucken. Die Enttäuschung in dem Blick meiner Großeltern ließ mich immer mehr an der Tür zusammenkauern. Nichts jedoch war so schlimm wie die Angst, die in Suz' Augen geleuchtet hatte. Und ich war der Grund für diese Abscheulichkeit gewesen. Das Gefühl, ein Monster zu sein, nahm mir fast gänzlich die Luft zum atmen.

Immer wieder dachte ich in letzter Zeit darüber nach, an welchem Zeitpunkt mein Leben derartig aus dem Ruder gelaufen war. Noch nie hatte ich mich so alleine gefühlt. Der einzige Freund, der von meinen Geheimnissen wusste, war das Buch, das mittlerweile unter meinem Bett verschwunden war. Seitdem ich meine Oma einmal dabei beobachtet hatte, wie sie in meinem Zimmer herumgelaufen war, hielt ich es für das Beste, solche Dinge vor ihnen geheim zu halten. 

Bei dem Gedanken, dass Suz möglicherweise heute Abend von meinen Kräften erfahren würde, machte mein Herz einen verräterischen Sprung. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als meine Sorgen mit jemandem teilen zu können, so wie ich es früher zuhauf getan hatte. So schnell wie der Gedanke gekommen war, schämte ich mich für meine Eigensinnigkeit. Schließlich durfte ich nicht vergessen, dass ich damit nicht nur meine Freundschaft zu Suz riskierte, sondern auch meine beste Freundin in Gefahr bringen könnte. Spätestens nach dem Aufeinandertreffen mit dem weißhaarigen Graf Dracula bei der heutigen Vernissage wusste ich, dass die Sache noch komplizierter war, als ich zuvor vermutet hatte.

Aufgelöst fuhr ich mir mit meinen von Tränen und Schminkeresten benetzten Handflächen durch die losen Haarsträhnen. Der Zwiespalt, ob ich Suz die Wahrheit sagen oder mir eine andere elegante Lüge ausdenken sollte, zerriss mich. Am liebsten hätte ich mich in mein Bett gekuschelt und zu einer Kugel zusammengerollt, doch ich tat es nicht. Wenn ich dies tun würde, wusste ich, würde ich die Kraft nicht mehr aufbringen, zu meiner Freundin in den Wald zu gehen.

Langsam erhob ich mich vom Boden. Ich konnte weinen so viel ich wollte, doch an meiner Situation würde es trotzdem nichts ändern. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es kurz nach halb elf war. Ich hatte noch gut eine Stunde, um mich zu sammeln und mir über den Verlauf des heutigen Abends klar zu werden. Ich hob den schwarzen Rucksack vom Boden und blickte ratlos hinein. Die Frage, was ich alles mitnehmen sollte, konnte ich nur beantworten, wenn ich wusste, was ich Suz erzählen würde.

Vorausgesetzt, sie kommt überhaupt.

Wie so oft in letzter Zeit zog sich mein Herz bei dem Gedanken, alles mir lieb und teuer Gewonnene zu verlieren, zusammen. Ein Blick auf das gemeinsame Foto über meinem Schreibtisch machte die Schuldgefühle, die mich von innen heraus zerfraßen, keineswegs erträglicher. Ich musste meine gesamte Kraft aufbringen, um mich von dem Foto abzuwenden und mich wieder dem Hier und Jetzt zu widmen. Es war klar, dass ich das Buch mitnehmen musste, um Suz glaubhaft meine Geschichte erzählen zu können. Außerdem brauchte ich etwas, was ich anzünden konnte. Ich dachte an die Kerzen in meinem Nachttisch und dass ich diese dringend einpacken müsste. Schließlich wollte ich nicht den Wald anzünden. Das Letzte, was ich im Moment gebrauchen konnte, war es in der lokalen Zeitung als Brandstifterin Aufmerksamkeit zu erregen.

Phönixchroniken - Entflammen ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt