Kapitel 21

223 30 17
                                    

Jegliche Erinnerungen nach Gabes Verschwinden waren verblasst und zu einer undurchdringbaren, grauen Masse verschmolzen. Ab und zu schafften es einzelne Fragmente von Bildern, dieser dunklen Wolke zu entkommen, bei denen ich jedoch nicht wirklich zuordnen konnte, ob diese nur Einbildung gewesen waren oder der Realität entsprochen hatten. Bilder, wie ich von Dimitri in die Limousine gezerrt wurde. Wie ich stumme Tränen vergossen hatte, ohne etwas von meiner Umwelt mitzubekommen. Irgendwo im Hintergrund vernahm ich ein amüsiertes, weibliches Lachen, das mir gehörig auf die Nerven ging, doch jegliche Reaktion meinerseits blieb aus. Selbst auf das gehässige Gelaber von Michail, der sich an diesem Abend noch wichtiger als der Papst höchstpersönlich vorkam, konnte ich nicht eingehen.

Erstarrt von der Gefangenschaft meiner eigenen, düstersten Gedanke, hatte ich noch nicht einmal versucht, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Der Schmerz, der unaufhörlich durch meine Venen pulsierte, war die einzige Emotion, die ich zuließ und die mich pausenlos daran erinnern würde, was ich an diesem Tag verloren hatte. 

Immer wieder sah ich Gabes Gesicht vor mir, dessen Augen die pure Enttäuschung nicht verbergen konnten. Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich, sagten immer wieder dieselben drei Worte:

Leb wohl, Cassandra.

Die sanfte, tiefe Stimme, die mir gegenüber noch niemals laut geworden war, wurde immer schriller und unberechenbarer. Ich ließ es über mich ergehen, jedes Mal aufs Neue, doch die Stimme wollte nicht aufhören. Irgendwann wurde es zu viel. Alles um mich herum war unerträglich laut. So viele Stimmen schrien durcheinander, von denen ich im ersten Moment keine Einzige zuordnen konnte. Doch schon bald hörte ich das Schluchzen meiner Oma. Ich hörte die quietschende Tür, durch die mich das enttäuschte Gesicht meines Opas anblickte, während er auf eine Erklärung meinerseits wartete. Selbst die Stille, nachdem Suz auf der Lichtung mit einem Fausthieb in die Bewusstlosigkeit befördert worden war, war so laut, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Meine Handflächen drückten gegen meine Ohren. Doch nicht einmal das konnte verhindern, dass ich meine eigene, gehässige Stimme hörte, die immer wieder heraus spie:

Und das alles nur wegen dir! Du bist Schuld!

Der Schrei, der durch meine Kehle drang und all den Schmerz enthielt, den ich in den letzten Wochen genau für diesen Moment gebündelt hatte, war unerträglich laut. Zu diesem herzzerreißenden Laut mischten sich weitere Schreie, die ebenfalls vor Schmerzen trieften und mein Herz noch mehr bluten ließen. Die anklagenden Stimmen verstummten erst, als ich, wie aus weiter Ferne, ein Piksen in meinem Arm spürte und in einen tiefen, traumlosen Schlaf sank, den ich nur zu gerne mit offenen Armen empfing.

 Die anklagenden Stimmen verstummten erst, als ich, wie aus weiter Ferne, ein Piksen in meinem Arm spürte und in einen tiefen, traumlosen Schlaf sank, den ich nur zu gerne mit offenen Armen empfing

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.

Meine erste Reaktion, als ich die Betonwände vor mir erblickte und das metallische Quietschen von dem Bett in meinem Gefängnis hörte, war Lachen. Ich konnte nicht sagen, wann ich das letzte Mal so sehr gelacht hatte. Und doch wusste ich, dass dies die falsche Reaktion war. Eigentlich sollte ich hier wie ein Häufchen Elend daliegen und mir die Seele aus dem Leib weinen.

Phönixchroniken - Entflammen ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt