Kapitel 29

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Die gesamte Nacht hatte ich kein Auge zubekommen. Immer wieder hatte ich mich von einer Seite auf die nächste gewälzt, nur um wieder mit etlichen Gedanken konfrontiert zu werden. Das grinsende Gesicht von Michail hatte mich stets verfolgt. Manchmal hatte ich sein Lachen so laut in meinem Kopf gehört, das ich glaubte, ihn direkt neben mir stehen zu sehen, wenn ich nur stark genug in die Dunkelheit sehen würde. Der Gedanke daran, dass dieses Lachen noch an diesem Tag für immer ausgelöscht werden konnte, bescherte mir immer noch eine Gänsehaut. Man könnte meinen, dass zwei Wochen genug Zeit gewesen wären, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Schließlich war Michail durch und durch böse und ich hatte nicht nur einen guten Grund, um sein Leben im Keim zu ersticken. Sowohl Genugtuung als auch blanke Panik durchflossen mich, wenn ich mich nur lang genug diesem Gedanken hingab.

Selbst als ich mit meinen anderen Mitstreitern am Frühstückstisch saß, steckte mir die Müdigkeit noch in den Knochen. Den Arm anzuheben, um den Strohhalm des Plastikbechers an meine Lippen heranzuführen, stellte sich als eine schiere Herausforderung heraus. Das war vermutlich die schlechteste Ausgangssituation für das, was mich heute erwarten würde. Und was nach diesem Tag möglicherweise auf mich warten würde.

Vielleicht wird ja alles wieder gut, hörte ich eine kleine Stimme der Hoffnung, die in den letzten Tagen zurecht nur selten zutage getreten war. Der Gedanke war so surreal, dass ich sofort den Kopf schüttelte und meine Aufmerksamkeit wieder dem Schlürfen an dem Strohhalm widmete. 

Das grelle Licht, das mich vor kurzer Zeit noch von oben herab geblendet hatte, wurde prompt von zwei riesigen Schatten überdeckt, die hinter mir auftauchten.

"Es ist Zeit", hörte ich eine tiefe, männliche Stimme brummen und erschrak über diese unerwarteten Laute so sehr, dass der Becher aus meiner Hand fiel. Noch nie hatte ich einen der Kolosse etwas sagen gehört. Als mein Blick zu den anderen in der Runde wanderte, konnte ich erkennen, dass ich nicht die Einzige war.

Ich schluckte. Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Den Service, aus dem Stuhl hochgezogen zu werden, bekam ich von den Kolossen ungefragt gestellt, bevor mir wieder einer der schwarzen Leinensäcke über den Kopf gezogen wurde.

Es ist soweit, dachte ich, bevor ich mir einen tiefen, beruhigenden Atemzug gönnte.

Ohne einen Laut von mir zu geben, ließ ich mich von den Männern in schwarzen Anzügen abführen. Dieses Mal wusste ich, dass ich wieder nach oben, aus diesem Bunker hinaus, geführt werden würde. Ich hörte die hallenden Schritte auf Beton, bevor sie sich in einem Raum aus Metall verloren, und schließlich wieder auf Holz entlang liefen.

Vielleicht zum letzten Mal, beschlich mich erneut die Hoffnung, die ich im Übrigen keineswegs an mich heranlassen wollte.

Ein Arm der Kolosse zwang mich dazu, an Ort und Stelle stehen zu bleiben. Das mir mittlerweile gut bekannte Quietschen der Tür war zu hören, bevor ich in den Raum gedrängt wurde und der schwarze Sack über meinen Kopf gezogen wurde. Ich erwartete bereits, dass ich aufgrund von blendendem Licht wieder dazu gezwungen sein würde, die Augen zuzukneifen, doch ich wurde vom Gegenteil überrascht.

Der relativ kleine, fensterlose Raum war mit cremefarbenen Tapeten gestaltet worden und schenkte dem Raum eine sanfte Aura. Zig Stehlampen tauchten den Raum in dumpfes Licht und schafften eine schöne, angenehme Lichtquelle. Das Mobiliar bestand aus etlichen, modernen Schränken, einer mobilen Kleiderstange und einem Frisiertisch, der auf der anderen Seite des Raumes auf mich wartete. Genauso wie ein bekanntes Gesicht, das die Sanftheit des Raumes schnell wieder vergessen ließ. 

"Ah, Cassandra! Ich habe dich bereits erwartet."

Javiers gespielt enthusiastische Art brachte in mir sofort den Brechreiz hervor, noch bevor der lateinamerikanische Mann zu mir herüber gewackelt kam und mir drei Küsschen auf die Wangen spendierte. Obwohl ich ihn nur einmal, genauer gesagt bei meinem Umstyling vor Giulias Hochzeit, gesehen hatte und ich ihn nicht sonderlich gut kannte, war meine Sympathie ihm gegenüber auf dem Gefrierpunkt. Das Einzige, was ich ihm als Reaktion schenkte, war das Verschränken meiner Arme. Ein weiterer Blick durch den Raum ließ mich entnervt eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht pusten. Wenigstens wusste ich, was in den nächsten Stunden auf mich zukommen würde.

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