Kapitel 24

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Das zusätzliche Gewicht in meiner Hosentasche hatte mich den gesamten, restlichen Tag daran erinnert, was heute nach dem Unterricht geschehen war. Lians dunkle, fast schon weise wirkenden Augen, die mich eindringlich musterten, waren mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Spätestens als die schwere Metalltür hinter Ilvy und mir wieder zugerastet war, hatte ich die Aufregung nicht länger verbergen können. Ständig hatte ich mir mit den Händen durch die Haare gefahren, die sich beinahe vollständig aus dem tiefen Zopf gelöst hatten. Immer wieder hatte ich in Gedanken alle Vorgehen durchgespielt, die für mich in Frage kamen. Nicht zuletzt hatte ich mir ständig die Frage gestellt, ob ich Lian trauen konnte, worauf ich einfach keine Antwort gewusst hatte. Deshalb war mir der Entschluss, Ilvy in das Gespräch mit Lian einzuweihen, nicht schwer gefallen. Ich hatte einfach mit jemandem darüber sprechen müssen, ohne vollständig die Nerven zu verlieren. Sie kannte mich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte, als ich in unserem kleinen Kerkerzimmer auf und ab gelaufen war.

Mittlerweile saß ich Ilvy gegenüber auf dem Bett und legte meinen immer schwerer werdenden Kopf in die Hände. Die gesamte Zeit über hatte Ilvy stumm meiner Erzählung gelauscht. Nur ihre immer größer werdenden Augen hatten ihre Überraschung preisgegeben.

Deshalb überraschte mich der Laut ihrer Stimme so sehr, dass ich zusammenzuckte, als sie fragte: "Bist du dir sicher, dass du dort hinausgehen willst?"

Mit keinem einzigen Wort hatte ich zu ihr gesagt, dass ich überhaupt in Erwägung zog, nach draußen gehen zu wollen, doch sie hatte bereits etwas in mir gesehen, das noch nicht einmal ich selbst begriffen hatte. In dem Moment, wo ich ihre Worte hörte, wusste ich, dass es die einzig richtige Entscheidung war, nach draußen zu treten und herauszufinden, was Lian von mir wollte.

Noch bevor ich antworten konnte, fügte Ilvy flüsternd hinzu: "Ich traue ihm nicht. Er ist irgendwie... anders."

Langsam hob ich meinen Kopf an, um Ilvy direkt anzusehen.

"Nein, ich bin mir nicht sicher. Aber vielleicht ist anders genau das, was wir in dieser Irrenanstalt brauchen."

Ich erhob mich vom Bett und ging mit langsamen Schritten auf die Metalltür zu, die zeitgleich Rückzugsort und Gefängnis darstellte. Vorsichtig legte sich meine Hand auf den Henkel der Tür, den ich zuvor noch nie gewagt hatte zu berühren. Kalt lag das Metall in meinen Händen, auf dem bereits die Lackschicht abgesplittert war. Wer weiß, wie viele vor mir bereits versucht hatten, aus diesem Kerker zu entkommen. Ich war sicherlich nicht die Erste. Deshalb erschien es mir mehr als surreal, dass heute tatsächlich der Tag gekommen sein sollte, an dem die Tür sich von innen aufschließen lassen würde.

Ein letztes Mal drehte ich mich zu Ilvy und sagte, jedoch mehr zu mir selbst: "Außerdem weiß ich, dass ich es bereuen werde, wenn ich es nicht wenigstens versuche."

Noch bevor ich den Henkel hinunter gedrückt hatte, sprang Ilvy plötzlich von ihrem eigenen Bett hoch und rannte auf mich zu, nur um mich in eine klammernde Umarmung zu ziehen. Mein Körper versteifte sich aufgrund der ungeahnten Berührung und der Worte, die sie mir ins Ohr hauchte.

"Pass bitte auf dich auf."

Schnell löste sie sich wieder und trat einige Schritte zurück. Langsam ließ ich meinen Blick von Ilvy zu der Tür wandern und drückte den Henkel herunter, der sich erstaunlich leicht nach unten drücken ließ. Mein Atem stockte, als ich die Tür zu mir zog und diese sich ohne Weiteres öffnen ließ. Mein Herz schlug wie verrückt, als ich die Tür weiter öffnete und meinen Kopf hinausstreckte. Der grau betonierte Flur war vollkommen leer. Nur das Surren der Belüftungsanlage war zu hören. Bevor ich allzu viele Gedanken daran verschwenden konnte, wie viele Gründe es gab, nicht auf die andere Seite der Tür zu treten, ließ ich meine Füße einfach gewähren. Meinen Körper presste ich nah an die Tür und erwartete bereits ein Sonderkommando, dass mich ohne Umwege in eine Folterkammer bringen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Es blieb erstaunlich still. Langsam zwang ich mich dazu, von der Tür wegzutreten, die noch einen Spalt geöffnet war. Noch war es mir möglich, einfach zurückzugehen und alles zu vergessen. Ich schüttelte meinen Kopf, um die Zweifel zu verdrängen. Ein letztes Mal drehte ich mich der Tür zu. Bevor diese langsam und lautlos ins Schloss glitt, konnte ich durch den Spalt Tränen in Ilvys hellen Augen erkennen, was mir einen leichten Schauer über den Rücken laufen und mich langsam schlucken ließ. Ich hatte das Gefühl, das mein Herz in die Hose gerutscht und mein Körper vollkommen ausgetrocknet war. Trotzdem blieb ein Teil von mir erstaunlich ruhig. Sofort vernahm ich Lians Stimme, als würde er wieder direkt vor mir stehen und zu mir sprechen.

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