Der Gang vom Frühstücks- zum Unterrichtsraum stimmte mich heute äußerst freudig. Auch wenn das Gefühl der Freude noch lange nicht mit der Freude zu vergleichen war, die ich einst in meinem früheren Leben empfunden hatte, war es doch etwas Schönes, dieser Hölle etwas Positives abgewinnen zu können. Heute war wieder Körperkontrolle mit Lian an der Reihe und ich war bereits aufs Äußerste gespannt, was wir dieses Mal durchnehmen würden. Mit jedem weiteren Tag, an dem ich Lians Anweisungen folgte und die Techniken, die er uns beibrachte, verinnerlichte, spürte ich, wie die Kontrolle stetig über meinen Körper und die damit einhergehenden Emotionen wuchs. Wut, Hass und Enttäuschung begleiteten mich weiterhin tagtäglich, doch es war ein berauschendes Gefühl, zu wissen, dass ich jegliche Emotionen hinunterfahren konnte, wenn ich es nur wollte.
Als ich den Unterrichtsraum betrat, war das Erste, was mir auffiel, dass die gesamten Tische und Stühle an die Seite gerückt worden waren. So blieb uns allen nichts anderes übrig, als uns im Raum zu verteilen und auf die Anweisungen von Lian zu warten. Er selbst saß bereits an seinem Pult, der nicht verrückt worden war, und vertiefte sich gänzlich in der Lektüre eines alt wirkenden Buches.
Doch selbst nach einigen Minuten der vollkommenen Stille hatte Lian nicht mal ansatzweise gezeigt, dass er uns registriert hatte. Ich war nicht die Einzige, die bereits ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Deshalb wunderte es mich auch nicht, als Logan sich laut räusperte. All unsere Blicke waren auf Lian gerichtet, der langsam von seinem Buch aufblickte und die Brille von seiner Nase gleiten ließ.
"Manche sagen, dass Ungeduld eine Sünde ist."
Langsam erhob er sich und schaute im Raum umher. Noch hatte er keinen einzigen Blick in unsere Richtung verschwendet, musterte stattdessen die Plakate an den Wänden, als würden sich dahinter besondere Schätze verbergen.
"Ich persönlich bin der Meinung, dass Ungeduld unnötig ist. Die meisten Dinge brauchen ihre Zeit, um sich zu entwickeln."
Mittlerweile war er vor dem Pult angekommen und lehnte sich an. Die Brille, die Lian in der Hand gehalten hatte, legte er langsam auf den Tisch, nur um einem jeden von uns daraufhin einen forschenden Blick zu schenken.
"Außerdem hätte jemand, der klug ist, diese nun vergeudete Zeit genutzt, um bereits die Atemtechniken zu wiederholen, die wir letztes Mal geübt haben."
Mein Blick wanderte zum Boden, als das Ausmaß seiner Worte zu mir durchdrang. Obwohl er es nicht explizit gesagt hatte, war die Enttäuschung in seiner Stimme kaum zu überhören. Sofort kam die Erinnerung von meinem letzten Gespräch mit meinem Opa hoch, welches genau das Gleiche in mir hervorgerufen hatte. Ich spürte, wie meine Hände sich langsam zu Fäusten ballten und die Emotionen überhand gewinnen wollten. Stattdessen jedoch konzentrierte ich mich auf meine eigene Atmung und den Herzschlag, den ich dumpf in meinen eigenen Ohren vernahm. Erst als sich meine Atmung normalisiert hatte, blickte ich wieder auf. Ich war nicht die Einzige, die die Worte Lians getroffen hatten. Ein jeder meiner Mitstreiter stand da und wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Lian hatte es, ganz ohne Geschrei und Drohungen geschafft, uns unter Kontrolle zu bringen, was in mir nur einen Gedanken aufkeimen ließ:
Er ist der geborene Anführer.
Dieses Mal war es Lian, der sich räusperte, um unsere Aufmerksamkeit vollends wieder zu gewinnen.
"Heute möchte ich einen Schritt weitergehen."
Als wollte er seine Aussage unterstützen, setzte er einen Fuß vor den anderen.
"Die zuvor gelernten Atemtechniken werden wir weiterhin nutzen, um die Energie kontrolliert durch unseren gesamten Körper fließen zu lassen, während wir unterschiedliche Körperstellungen ausprobieren werden. Dabei ist es insbesondere wichtig, stets auf eure innere Stimme zu hören und, komme was wolle, die Kontrolle zu behalten."
DU LIEST GERADE
Phönixchroniken - Entflammen ✔️
FantastiqueAbgeschlossen --- Band 2 der Phönixchroniken --- Nach einer nervenaufreibenden Sizilienreise hat Cassie nur einen sehnlichen Wunsch: Die Rückkehr in ein normales Leben. Dass dies jedoch nach alldem, was vorgefallen ist, nicht so einfach ist, wird ih...