Kapitel 25

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Schweiß perlte von meiner Stirn aufgrund der Hitze, die vom lodernden Feuer in dem Kamin ausging. Mein kaum gefüllter Magen rumorte wegen des ungewohnt starken Alkohols, der sich langsam darin ausbreitete. Doch nichts war so schlimm wie der stechende Kopfschmerz, der kurze Zeit später einsetzte. Fragen und Gedanken buhlten gleichermaßen um meine Aufmerksamkeit, was mich schließlich ergeben meine Augen schließen ließ.

Die Geschichte, die Lian mir wenige Minuten zuvor offenbart hatte, forderte langsam ihren Tribut. Immer wieder sah ich das Gesicht Gabes vor mir. Mal war er alleine zu sehen, mal mischte sich die lachende Fratze Michails dazu. Und jedes Mal aufs Neue fühlte ich mich hilflos und hintergangen. Ich zwang dazu, meine Augen wieder zu öffnen, um mich nicht in meinen Gedanken zu verlieren. Es stand schließlich viel auf dem Spiel. Noch hatte Lian mir nicht seinen Plan offenbart, weshalb einiges zwischen uns zu besprechen war.

Als ich meinen Blick über den Raum schweifen ließ, ertappte ich Lian dabei, wie er etwas oberhalb des Kamins ansah. Mein Blick folgte seinem und ich war wie erstarrt, als ich den Sekundenzeiger der Kuckucksuhr dabei beobachtete, wie er unaufhörlich von einer Position zur nächsten schnellte. Das Konstrukt der Zeit war mir in dieser Irrenanstalt dermaßen abhanden gekommen, dass ich spürte, wie sich eine Träne aus meinem Augenwinkel löste. Die normalsten Dinge in diesem Raum bescherten mir Schauer, die mich zum Erzittern brachten. Überforderung machte sich in meinem Körper breit und veranlasste mich dazu, den Kopf in meine Hände zu legen. 

Ich spürte, wie die Tränen unaufhörlich über meine Wangen liefen und meine Hände benetzten. Mit aller Kraft unterdrückte ich die Schluchzer, die sich langsam aber sicher durch die Oberfläche kämpfen wollten. Es war mir in diesem Moment zwar gleichgültig, dass Lian mich bei einem Schwächeanfall beobachten konnte. Doch ich wollte seine Geduld mir gegenüber nicht ausreizen. Auch wenn er sich momentan als ein Verbündeter meinerseits präsentierte, so fehlte immer noch jegliche Vertrauensbasis zwischen uns, auf die ich hätte bauen können. Deshalb musste ich mir sofort über eines klar werden. Im Moment zählte nur ein einziger Gedanke: Ich musste so schnell wie möglich aus dieser Hölle entkommen. Egal, mit welchen Mitteln! Und Lian bot mir eine Möglichkeit an, von der ich zuvor nur hätte träumen können.

"Cassandra, vermutlich hast du gerade sehr viele Fragen, auf die du gerne eine Antwort hören würdest, aber uns bleibt leider nicht mehr viel Zeit. Du musst mir jetzt genau zuhören. Es wird keine weitere Möglichkeit geben, privat miteinander zu sprechen. Das wäre zu gefährlich. Hast du mich verstanden?"

Dieser Ansporn war genau das, was ich gebraucht hatte. Mit dem Ärmel des Overalls wischte ich über meine Wangen, um die Spuren der stummen Tränen zu beseitigen. Irgendwann würde ich soviel weinen und nachdenken können, wie mir lieb war, doch jetzt war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Mehr als Zusicherung für mich selbst nickte ich und fragte geradewegs: "Was ist der Plan?"

Lian bedachte mich mit einem musternden Blick, den er über meinen gesamten Körper fahren ließ, bevor er weitersprach.

"Vor Kurzem habe ich von der Jahreszeremonie gesprochen. Erinnerst du dich?"

Ich nickte und zog dabei wieder die Knie an meinen Oberkörper heran. Meine ganze Konzentration widmete ich Lian. Ich durfte es mir schließlich nicht leisten, mir etwas fundamental Wichtiges entgehen zu lassen.

"Gut. Diese Jahreszeremonie wird in zwei Wochen stattfinden, weswegen uns nicht mehr viel Zeit für die Vorbereitung bleibt. Für dich ist erst einmal nur wichtig zu verinnerlichen, dass alle Langlebigen anwesend sein werden."

Bei dem Gedanken, dass ausnahmslos alle Langlebigen bei dieser Zeremonie dabei sein würden, spürte ich, wie mein Herz einen kurzen Schlag aussetzte. Dies bedeutete, dass nicht nur irgendwelche für mich unbekannten Gestalten daran teilnehmen würden. Vielmehr würden fünf Teilnehmende der Zeremonie aus Sizilien stammen, die neben dem Haus meiner Eltern wohnten. Aufregung zwang mich dazu, meine feuchten Hände zu Fäusten zu ballen.

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