Kapitel 17

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Die Sonne schien das erste Mal seit langem durch das gläserne Dach, das den Blick auf den weiten Himmel freigab. Hin und wieder flog ein Vogel vorbei und hinterließ in mir das Sehnen, mich ihm anzuschließen und nach Hause zu fliegen. Obwohl mir bewusst war, dass dies ein momentan unerfüllbar scheinender Wunsch war, konnte ich immer noch die Hoffnung nicht aufgeben, dass bald alles wieder wie vorher werden würde. Ich schmunzelte ob meiner Leichtgläubigkeit.

Was ist denn bitte schon normal? Meinst du wirklich, dass du nach all dem wieder eine einfache Kunststudentin sein kannst, deren einziges Problem es ist, wie sie das Studium finanzieren soll?

Der leichtgläubige Teil von mir stimmte zwar zu, dass dies nicht geschehen würde, doch er wollte immer noch nicht aufgeben.

Wenigstens irgendwann mal wieder den Gesang von Vögeln zu hören, würde wieder einen Hauch von Normalität darstellen.

Doch das Einzige, was mir in diesem Moment blieb, waren Schritte auf altem Parkett und die Sonne, die durch die Wolkenbank gebrochen war und uns in ihre Wärme hüllte.

"Konzentration, Cassandra!"

Señora Libertas quietschige Stimme unterbrach die Ruhe, die ich für einen kleinen Moment hatte spüren dürfen, und brachte mich wieder in die Realität zurück. Genervt schaute ich zu ihr. In ihrem blauen, weiten Jumpsuit, den streng nach hinten gegelten Haaren und dem schwarz-silbernen Gehstock in der Hand hätte man sie leicht für einen durchgeknallten Bauarbeiter halten können. Sie war so wandelbar wie ein Chamäleon und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob dies für sie irgendeine Bedeutung hatte. Obwohl ich mich selbst ganz und gar der Welt der Kunst verschrieben hatte, verstand ich ihre Art, sich kreativ auszudrücken, nicht.

Generell verstehe ich hier ganz und gar nichts!

Nach der gestrigen Kusseinlage mit Dimitri waren wir ohne Umschweife in unsere Zimmer gebracht worden, was mir mehr als nur gelegen gekommen war. Keinen einzigen, konsistenten Gedanken hatte ich auf dem Weg zu meinem Zimmer fassen können. Noch immer hatten sich meine Lippen unnatürlich feucht angefühlt. Immer wieder spürte ich, wie meine Finger meine Lippen abtasteten, so als wollten sie wirklich sicher gehen, dass ich mir die letzten Minuten nicht nur eingebildet hatte. Selbst als Ilvy gefühlte Stunden später in unser Zimmer geführt worden war und mir eine Frage gestellt hatte, die ich wie aus weiter Ferne vernommen hatte, konnte ich immer noch nicht begreifen, was geschehen war.

So viele Fragen spukten in meinem Kopf umher, auf die ich bis jetzt noch keine Antwort finden konnte. Wieso, um Himmels Willen, musste ich mit Dimitri eine gemeinsame Chemie aufbauen? Die einzige, plausible Antwort, die mir darauf eingefallen war, ließ mich immer noch erschaudern. Ich hatte mich nach langen Überlegungen an die eine Stelle in dem Buch Die Legende des Phönix erinnert, in der etwas über seelische Verbundenheit gestanden hatte. War es wirklich möglich, dass sie diese Art von Verbundenheit zwischen Dimitri und mir erreichen wollten, um irgendwelche weiteren, kranken Experimente an uns ausführen zu können? Doch wenn dies tatsächlich der Grund sein sollte, warum wir beide zum Tanzen verdonnert worden waren, dann verstand ich dieses ganze Theater nicht. Sowohl Dimitri als auch ich machten keinen großen Hehl daraus, dass wir gerne alles Andere machen würden als miteinander zu tanzen. Man hätte uns für den Zweck der seelischen Verbundenheit auch einfach in einen kleinen Raum sperren und uns unseren Gefühlen hingeben lassen können.

Außerdem hatte es da die kleine Tatsache gegeben, dass diese Chemie zwischen Dimitri und mir innerhalb einer Woche erwartet wurde. Dies passte auch nicht so richtig damit zusammen, was ich mir zuvor zusammengereimt hatte. Das Einzige, was ich aus dieser winzigen Information hatte entnehmen konnte, war, dass in einer Woche etwas Wichtiges stattfinden würde, wo Dimitri und ich zusammen - anscheinend als Paar - glänzen mussten.

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