Der Schrecken der Karibik - Kapitel 29

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Wie angewurzelt steht Elisabeth nun da. Ein unbeweglicher Baum, den selbst die stärkste Orkanböe nicht zum wehen bringt. "Ich bin auserwählt dazu, dass die Göttin meinen Körper übernimmt?" In erster Linie denkt sie an ihr eigenes Schicksal. Das Anné die Tochter einer Gottheit ist kann sie noch verarbeiten und verkraften. Es erscheint ihr auch logisch, denn wie könnte sie sonst den ganzen Nebel entstehen lassen, ein Schiff kontrollieren und unsterblich sein? Aber das sie selbst auserwählt wurde, um eines Tages den Platz einer Göttin einzunehmen und sich kontrollieren zu lassen ist ihr dann doch zuviel des Guten. "Das hast du komplett falsch verstanden, Elisabeth. Sie wird ein Teil von dir, aber du wirst keineswegs ihre Persönlichkeit übernehmen. Keine Kontrolle und keinen Einfluss wird sie auf dich haben. Für unsere Göttin ist nur relevant, dass ihre Seele in einer Auserwählten weiterlebt. Und diese Auserwählte bist du." Immerhin das beruhigt Elisabeth. So unglaublich, wie sich alles anhören mag, sie glaubt Anné jedes einzelne Wort. Warum sollte diese Frau sie auch belügen? Blind vor Liebe ist Elisabeth. Misstrauen gegenüber allem beherrschte sie schon lang, aber alles, was den Kapitän der Flying Dutchman betrifft, kauft sie mit wenig Widerstand ab. "Die Seele beinhaltet Wissen und Kräfte. Ihren Körper hat sie einst verloren und ihre alte Macht wird nie mehr der alten gleichen. Damals glaubten hunderte an sie, heute sind es vielleicht maximal zwei dutzend Menschen, die ihr folgen. Und selbst eine Göttin fürchtet, nicht mehr zu existieren. Der Wunsch nach Existenz ist aber deutlich zu differenzieren zu Menschen oder Halbgöttern." Der Kopf ist voller Gedanken. Anné ist eine Halbgöttin allem Anschein nach und sie selbst soll also die Macht der Göttin Shi'raska in sich aufnehmen und einen uralten Glauben fortführen. "Warum ich? Warum unter allen Menschen ich? Unter Christen bin aufgewachsen. Ketzer. Ihr seid nichts als Ketzer. Das hat man mir beigebracht. Weitab eures Glaubens bin ich aufgewachsen. Warum also ich? Jeder beliebige Mensch kommt infrage. Aber ich? Ausgerechnet ich?" Sie sieht sich selbst als unwürdig an, als eine Frau, welche keineswegs in die Rolle einer Nachfolgerin für eine uralte Religion passt. Nach welchem Prinzip wählt Shi'raska also aus? Zufall? Absicht? Einem eingespeicherten Code? "Diese Frage kann selbst ich dir nicht beantworten. Und ich glaube auch nicht, dass sie dir diese Frage beantworten wird. Wenn die Zeit gekommen ist, dann werden wir unsere Antworten bekommen." Die süße Seeluft umspielt ihre beider blasse Haut und zieht in ihre Nase. Ein dezentes Aroma, ein süßer Duft, der in den beiden ein Gefühl von Sicherheit und Heimat verleiht. "Ich werde mein Schicksal annehmen. Aber wie?" Tief zieht Anné den Duft der jungen Prinzessin ein und lässt ihre Stirn wieder an die von Elisabeth gleiten, um die Augen zu schließen und mit leiser, flüsternder Stimme Antwort zu geben. "Wir müssen noch einige Schätze bergen und ein wertvolles Artefakt. Eine Krone, besetzt mit Rubinen und Smaragden sowie einen Ring. Wenn es dann genug sein wird, kann unsere Göttin frei sein. Dann können wir frei sein. Nur du, ich und die endlose See." Diese Stimme hat solch einen hypnotischen Klang auf Elisabeth, dass sie direkt den Kuss erwartet, welchen Anné ihr schenkt. Ein Kuss der Liebe, der Lust, der gegenseitigen Abhängigkeit. Im Kuss verschlungen, trägt Anné gleich ihre Liebste in ihre gemeinsame Kajüte. Anné hatte versprochen ihrer Elisabeth zu zeigen, wie sehr sie diese Frau liebt. Und dem kommt sie schnell nach. Kleidung wird zu einem überflüssigen Material, welches nur die schöne Haut auf unnötige Art und Weise bedeckt. Zungen berühren Zungen, Finger tauchen ein und bewegen sich stoßend fort. Für Elisabeth ist dies ein Neubeginn. Der Anfang eines neuen Lebens. Die Schreie, welche sie Anné schenkt, während sie verwöhnt wird, leiten eine neue Zeit ein. Eine gemeinsame Zeit.


Wie in Zeitlupe dreht sich die Goldmünze, ein einstiger antiker Schatz auf seinem Schreibtisch, ehe der Schwung verblasst und sie auf dem Tisch landet. Er wirkt nachdenklich. Der Commodore ist mit Sicherheit tot und die ganze Insel, welche im Meer verschwand, kann kein Zufall sein. Er ist eigentlich kein Typ dafür, an Magie, Hokuspokus und derlei Dinge zu glauben, aber hier sind die Beweise zu eindeutig. "Die junge Prinzessin weigert sich also, nach Hause zu kommen. Sie war schon immer so ein dummes, naives Ding. Wenn der König nicht ein Vermögen für ihre Sicherheit zahlen würde, dann hätte ich sie schon längst mit einem Anker und einer Kugel im Kopf versenkt." Er spricht gern mit sich selbst. Der kleine Mann mit der großen Macht trommelt mit der rechten Hand nachdenklich auf seinem Tisch herum. Anné zu töten oder zu besiegen ist für ihn nicht die Schwierigkeit, sondern Elisabeth sicher zurückzubringen. Wenn er versagt, würde der König in köpfen lassen. Anné ist ein Teufel und ihm wahrlich ein Dorn im Auge, aber für sein Leben würde er Elisabeth zurückholen, zumal es ihm eine ordentliche Beförderung einbringt, wenn er Anné Shanel auf den Meeresgrund samt ihrem teuflischen Schiff versenkt. Er überlegt eifrig. Eine Strategie. Sein Commodore hatte sicherlich den Fehler begangen, dass er ehrenvoll war und einen Handel als Handel sieht. Er selbst würde jeden Handel brechen, wenn es einem Sieg gleichkommt, besonders gegen solch einen Feind. Aber diese Chance war vertan. Nun gab es nur noch eine Option: Krieg. "Du willst also einen Krieg, Anné Shanel? Du willst also England weiter ein Dorn im Auge sein, plündern und morden und mit der Prinzessin umhersegeln? Das werden wir noch sehen. Ein paar Monate des Sieges gewähre ich euch noch. Doch meine Fäden beginnen bereits ein Netz um euch zu spinnen. Und ehe ihr euch verseht, sterbt ihr. Einer nach dem anderen."

Der Schrecken der Karibik | girlxgirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt