Oriana saß in einem der Salons, die früher dafür verwendet wurden, um sich mit möglichen Bündnispartnern zu treffen, ohne Vaters Arbeitszimmer zu belegen, und las. Als Tatterfell anklopfte und die Tür öffnete, hob die den Blick und musterte unsere kleine Gruppe. Auf ihrer Stirn bildeten sich zarte Falten und sie stand auf. Der seidene Stoff ihrer Gewände floss dabei um sie herum wie ein See aus Perlmutt.
„Jude, Crystal...was führt euch beide zu mir?", fragte mit wie üblich ruhiger Stimme und legte den Kopf etwas schief. Mir wurde urplötzlich wieder bewusst, wie sehr ich sie doch vermisst hatte und wie sehr es mir doch gefehlt hatte, mit ihr zu reden, ohne Angst haben zu müssen, verurteilt zu werden. Automatisch stieg in mir der Wunsch hoch, sie zu umarmen, aber ich tat es nicht, um niemanden hier zu erschrecken.
Wieder einmal übernahm Pandora das Reden. „Guten Tag, Lady Nightshade. Wir waren gerade auf dem Weg zu Judes Schwester und nachdem wir dafür noch Kleidung aus der Menschenwelt benötigen und Jude uns erklärt hat, dass es hier im Huas welche gibt, wollten wir fragen, ob es in Ordnung ist, wenn wir uns etwas davon nehmen."
„Die Menschenwelt?", wiederholte Oriana, die Falten in ihrer Stirn vertieften sich, „Warum wollt ihr in die Menschenwelt?"
Jude öffnete den Mund und ich konnte bereits an ihrem Gesicht ablesen, dass sie vorhatte, ihr die Antwort zu verweigern. Aus einem Reflex heraus schüttelte ich den Kopf. Wir konnten Oriana vertrauen, es gab keinen Grund, die Wahrheit vor ihr geheim zu halten.
„Das ist eine etwas längere Geschichte." Pandora zuckte mit den Schultern, ganz offensichtlich hatte sie es geschafft, meine Gedanken anhand meines Gesichtsausdrucks zu erraten.
„Nun, dann würde ich euch bitten, Platz zu nehmen."
Jetzt ergriff Jude doch wieder das Wort und heilt es scheinbar nicht mehr aus, dass ihre Meinung in diesem Bereich ignoriert wurde. „Leider stehen wir ein wenig unter Zeitdruck. Pandora, du bist doch schneller fertig als wir, oder? Erklär doch Oriana, was los ist, während Crystal und ich und umziehen."
„Das kann ich machen, wenn das in Ordnung ist." Jetzt sahen wir alle Oriana an, die nach etwa zwei Sekunden nickte und dabei Pandora musterte. Mir fiel erst jetzt auf, dass sie bis jetzt die Einzige war, die sie vorher noch nicht getroffen hatte.
„Natürlich. Jude, du weißt ja, wo sich die Zimmer befinden." Sie neigte nur den Kopf und zog mich dann auch schon am Handgelenk aus dem Salon, die Gänge entlang, die Treppen hoch, nach links, nach rechts und den Flur herunter. Ich war versucht, stehenzubleiben und nach meiner Tür zu suchen, doch ihr eiserner Griff hielt mich davon ab und zwang mich zum Weitergehen.
Schließlich blieb sie stehen und zeigte auf die Tür, an der wir nun standen. „Das ist Vivis Zimmer, da müsste etwas für dich sein. Mein Zimmer ist ganz in der Nähe, ich hole dich gleich wieder ab, okay? Okay." Und schon stand ich allein im Flur, seufzte leise und fragte mich, was sie eigentlich noch immer gegen mich hatte. Dann drehte ich mich zur Tür und ging in das Zimmer meiner Halbschwester.
Zehn Minuten später saß ich auf Viviennes Bett und zupfte unsicher an dem rosafarbenen Langarmoberteil herum. Der Stoff der Menschen war gröber, es fehlten die Zauber, die in jeden Faden gesponnen waren, damit sich alles an den Körper des Träger anpasste. Scheinbar war Vivienne noch immer größer als – was jetzt nicht wirklich überraschend oder schwer war – in jedem Fall waren mir sowohl das Oberteil als auch die schwarze Hose – die sich anfühlte, als würde ich sie bis ins Unendliche ziehen können – etwas zu weit, aber es ging sogar. Schuhe, die ungefähr in meiner Größe waren, hatte ich auch gefunden, sie waren schwarz, aus ziemlich dünnem Stoff und wurden mithilfe von weißen Bändern geschnürt, damit sie nicht aufgingen. Meine Haare hatte ich vor dem Badezimmerspiegel so hochgesteckt, dass meine Ohren nicht zu erkennen waren, gegen meine Augen konnte ich leider nichts tun. Ein Quietschen der Türangel brachte mich dazu, aufzublicken.
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Elfenring
Romance(Teil zwei der Reihe. Band eins: Elfenkuss) Die Welt scheint perfekt: Madoc hat seine Pläne aufgegeben und sitzt im Turm des Vergessens, das Geheimnis um Crystals Vergangenheit wurde gelüftet und die Hochzeit ist gerade in Planung. Doch ein Schatten...