20| Es ranken die Ranken

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"Kennst du dich in New York aus? ich bin nämlich aus Boston."
"Nicht wirklich, ich meine, ich war hier im Krieg und so, aber auskennen tue ich mich nicht."
"Okay, wie zum Helheim sollen wir dann ein Blumengeschäft finden? Und was ist überhaupt eine Aloe Vera?"
"So eine Sukkulente. Man kann die Blätter abschneiden und das Innere als Gel gegen Sonnenbrand benutzen. Ich komme aus Texas, da kann sowas schonmal nützlich sein. Und nach einem Blumengeschäft können wir doch fragen."
Magnus Chase sah eher weniger begeistert aus. Im Vergleich zu Will Solace war "Leute nach dem Weg fragen" eher nicht seine erste Intention. Er kam allerdings nicht dazu, irgendetwas einzuwenden, denn sein Teampartner hatte schon eine Passantin angehalten. Magnus hielt sich im Hintergrund, während Will mit einem breitem Lächeln auf seinem sommersprossigen Gesicht die Frau, die eine knallgelbe Einkaufstasche in der Hand hielt, fragte, ob sie ein Blumengeschäft in der Gegend kannte. Während die Frau Will tatsächlich eine Wegbeschreibung gab, fragte sich Magnus, wie Will es eigentlich schaffte, so harmlos und vertrauenswürdig zu wirken. Sie hatten ja gewisse Ähnlichkeiten - beide hatten kurze blonde Haare, waren ungefähr gleich groß und hatten eine ähnliche Statur. Doch irgendwie schaffte es Will dabei, total liebenswürdig zu wirken, während Magnus meistens eher wie jemand, dem man aus dem Weg gehen sollte, wirkte. Vielleicht sollte er an seinem Lächeln arbeiten, damit es auch nach Sonnenschein und Regenbögen aussah.

"Erde an Magnus." Will fuchtelte mit der Hand vor Magnus Gesicht herum. "Warum starrst du mich so an? Hab ich was im Gesicht?"
"Hm? Nein, nein, ich bin nur in Gedanken versunken."
"Na dann. Die Frau hat mir eine Wegbeschreibung gegeben, also sollten wir das schaffen."
"Gut. Aber du musst die Führung übernehmen, ich hab nicht zugehört."
Will nickte und ging los. Magnus folgte ihm. "Du hast Heilkräfte, richtig?", fragte er den Sohn des Apollo.
"Ja. Medizin ist mein Ding. Dafür hab ich nichts anderes von meinem Vater geerbt. Kein Bogenschießen, keine Lyrik, keine Musik."
"Klingt, als hättest du gern andere Kräfte."
"Manchmal schon. Aber ich komme damit zurecht. Nur schade, dass ich keine Zombies aus dem Boden kommen lassen kann." Er grinste.
"Du kennst jemanden, der Zombies aus dem Boden kommen lassen kann?"
"Absolut. Nico."
"Ach, der mit den schwarzen Haaren? Dein Freund, richtig?"
"Genau."
"Ist es nicht ziemlich beängstigend, einen Freund zu haben, der Zombies aus dem Boden holt?"
"Oh nein, ich vertraue Nico voll und ganz. Außerdem, wenn ich das richtig sehe kämpft Alex doch mit einer Garotte, da müsstest du doch auch in ständiger Angst leben, geköpft zu werden."
Magnus grinste. "Glaub mir, das ist schon passiert."
"Klingt besorgniserregend. Wieso hast du überhaupt gefragt, ob ich heilen kann?"
"Ich war neugierig. Man trifft selten andere Heiler."
"Ich verstehe. Freut mich, jemanden vom selben Schlag zu treffen." Er klopfte Magnus auf die Schulter. "Aber keine Zeit mehr zu plaudern, wir sind jetzt da."

Sie standen vor einem kleinen Blumengeschäft. Über der Auslage hing ein Schild, auf dem "Sunny's Flowerpalace" stand. Zu zweit traten sie ein. Überall standen Blumen und Pflanzen und es roch nach feuchter Erde und Blütenduft. "Hallo?", fragte Will.
Aus dem hinteren Teil des Laden kam eine junge Frau. Sie hatte blonde Haare, die zu einem langen Zopf geflochten waren, trug ein geblümtes Kleid und saß im Rollstuhl. "Guten Tag", begrüßte sie sie. "Ich bin Sunny. Wie kann ich euch helfen?"
"Wir brauchen eine Aloe Vera", kam Will sofort zur Sache.
"Oh, ich verstehe. Kommt mit!"
Sie fuhr in den hinteren Teil des Ladens, wo ein Tisch voll mit Kakteen und Sukkulenten stand und wählte eine hübsche Aloe Vera aus. Vorsichtig hob sie den Topf hoch und hielt ihn Magnus und Will hin. Will nahm die Pflanze entgegen und betrachtete sie. "Die ist perfekt, danke."
"Kein Problem", lächelte Sunny und rollte zum Ladentisch. Sie tippte etwas in die Kasse ein, dann hob sie den Blick und musterte die beiden Jungen kritisch. "Es geht mich ja nichts an, aber wozu brauchen zwei junge Männer wie ihr überhaupt eine Aloe Vera?", fragte sie mit einem belustigten Lächeln.
"Oh, ähm, die ist für eine Freundin von uns. Sie - mag Aloe Veren gern?"
"Wie schön. Aloe Veren sind tolle Pflanzen, müsst ihr wissen. Man kann sie als Heilmittel einsetzen, was ich sehr nützlich finde und sie brauchen wenig Wasser. Wusstet ihr, dass sie zu den Liliengewächsen zählen?"
"Liliengewächse! Lily! Das erklärt einiges!", rief Magnus aus.
Sunny quittierte das nur mit einem irritierten Blick.
Will im Gegensatz war von irgendetwas abgelenkt worden. Er starrte auf einen Ständer mit Blumensträußen, als gäbe es dort etwas Spannendes zu sehen. Dann packte er plötzlich Magnus am Arm und brüllte: "Runter!"
Magnus und Sunny reagierten beide sofort und duckten sich. Der Blumenstraußständer explodierte plötzlich förmlich. Schnittblumen und Sträuße flogen in alle Richtungen. Magnus nahm seine Halskette ab und sofort verwandelte sich der Anhänger in Jack. Das Schwert jubelte begeistert. "Es regnet Blumen!"
Dort, wo der Blumenständer gestanden hatte, richtete sich nun etwas auf. Es waren Ranken, die wie Hände nach Will, Magnus und Sunny griffen. Will sprang hinter einen Ständer mit Samenpäckchen, während Jack Magnus verteidigte und die Ranken zerschnitt. Sunny tastete unter ihrem Tisch nach etwas. Im selben Moment schlang die Ranke sich um ihre Hüfte und riss sie aus ihrem Rollstuhl. Sie schrie auf, schaffte es aber noch, etwas unter dem Tisch hervor. Ein Schwert. Die Ranke wand sich immer fester um sie. Sunny hackte sie ab und fiel mit einem kurzen Aufschrei zu Boden. Will warf währenddessen mit Gartengeräten, die er gefunden hatte, nach den Ranken, während Jack sie weiterhin zerhackte. Magnus schaffte es, sich nahe genug heranzuschleichen, um zu erkennen, woher die Ranken kamen. "Jack, komm her, du musst den Blumentopf zerstören!"
Dieser Ausruf hatte gleich mehrere Auswirkungen: Jack kam herbeigeschossen und im selben Moment ließen die Ranken von Will ab, um sich zu verteidigen. Er eilte zu Sunny. "Ist alles in Ordnung?"
Sie nickte hastig. "Ja, ja. Nimm das Schwert und hilf deinem Freund, schnell!"
Tatsächlich war Eile angesagt. Die Ranken hatten sich jetzt alle um Magnus geschlungen und Jack hatte seine Mühe, sie zu zerhacken. Will griff nach dem Schwert und war sofort dabei, die Ranken abzuschneiden. Als es immer weniger wurden, schaffte er es endlich auch, das Schwert in den Blumentopf zu rammen, aus dem sie gekommen waren. Sofort erschlafften alle Ranken und Magnus purzelte zu Boden.

Für einen Moment herrschte Stille. Will zog das Schwert aus dem Blumentopf, dann half er Sunny zurück in ihren Rollstuhl. Magnus wiederum rappelte sich auf und ließ Jack wieder ein Anhänger werden. Sofort gähnte er und setzte sich zurück auf den Boden. "Ist alles in Ordnung?", fragte Will ihn.
Magnus nickte. "Wenn Jack kämpft, dann fühle ich mich, als hätte ich ihn geschwungen, sobald ich ihn berühre." Er gähnte erneut. Nun wandte er sich an Sunny. "Warum hat eine Blumenverkäuferin ein Schwert unter ihrem Ladentisch?"
Sunny lachte auf. "Ich weiß nicht, wer ihr beiden seid. Aber ich bin Samantha Mason, genannt Sunny, Tochter des Apollo."
Will sah sie überrascht an. "Eine Tochter des Apollo? Wahnsinn, ich bin William Solace, Sohn des Apollo."
"Oh, ein Halbbruder", Sunny strahlte. "Und du?", wandte sie sich an Magnus.
"Magnus Chase, Sohn des nordischen Gottes Frey."
"Ein nordischer Halbgott? Spannend. Ich muss euch danken, ohne euch wäre ich mit diesem Monster vielleicht nicht fertig geworden."
"Das war doch kein Problem", winkte Magnus gähnend ab und rappelte sich dabei auf. "Sollen wir hier aufräumen?"
"Nein, nein. Das schaffe ich schon selber und wenn nicht, weiß ich, wen ich um Hilfe bitten muss. Ich schenke euch auch die Aloe Vera. Versprecht mir nur eines - versucht, zu überleben. Es ist ein hartes Leben als Halbblute."
Will lächelte. "Wir versprechen es."
"Wunderbar." Sie lächelte. "Solltet ihr jemals Hilfe brauchen, ich habe viele Kontakte in der übernatürlichen Szene New Yorks. Und wenn ihr Blumen braucht, könnt ihr natürlich auch gerne kommen."
"Vielen Dank", meinte Magnus. "Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen."

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