New York war für Nico immer noch eine viel zu große Stadt. Er fühlte sich immer unglaublich winzig und hilflos zwischen all den Hochhäusern und vorbeirasenden Autos. Alles war laut, bunt und schnell. Mehr als einmal verspürte er das Bedürfnis, sich in den nächstbesten Schatten zu stürzen und einfach zu verschwinden. Carter dagegen schien ziemlich entspannt im Anbetracht des Großstadtdschungels. Er pfiff leise vor sich hin. Die beiden waren auf dem Weg zu einem Buchladen. Sie sollten eine Ausgabe von Alice im Wunderland besorgen und Carter hatte sofort einen Buchladen in der Gegend vorgeschlagen. Nico, der sich in Brooklyn nicht auskannte, hatte sich nur gerne dem Schicksal gefügt und Carter die Führung übernehmen lassen. "Jemals Alice im Wunderland gelesen?", versuchte Carter sich an Small Talk.
"Nein. Aber ich kenne den Titel, also muss es schon ziemlich alt sein."
"Ja, es ist aus dem neunzehnten Jahrhundert, wenn ich mich nicht irre. Aber wieso muss es alt sein, weil du den Titel kennst?"
"Ich, ähm... Kennst du Captain America?" Will hatte Nico dazu gebracht, die Filme anzusehen (nicht ohne dabei blöd zu grinsen und seither Witze darüber zu machen) und Nico hatte bemerkt, dass das eine gute Referenz war, um seine Erfahrungen zu erklären.
"Ja?"
"Nun, ich bin auch in den Vierzigern in der Zeit eingefroren worden und erst vor ein paar Jahren in der Gegenwart angekommen."
Carter starrte ihn an. Nico zuckte nur mit den Schultern und sah weg. Es war ihm immer wieder unangenehm, wegen seiner Vergangenheit von Leuten wie ein Ausstellungsstück in einem Museum behandelt zu werden.
"Das ist irgendwie cool", stellte Carter fest. "Verrückt und sicher auch sehr verwirrend, aber cool."
Nico zuckte wieder mit den Schultern. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. "Hast du das gesehen?"
"Was?"
Nico deutete auf eine Mülltonne in einem Innenhof. "Da war irgendetwas weißes."
Neugierig machte Carter ein paar Schritte in den Hof hinein, sah aber nichts. Nico folgte ihm. "Vielleicht war es auch nur ein Streu- Da! Da war es wieder! Diesmal huschte das Wesen an einem ausrangierten Fahrrad, das am Boden lag vorbei. "Ich glaube, es war ein weißes Kaninchen", rief Nico, doch das Tier war schon wieder spurlos verschwunden.
"Ein weißes Kaninchen?" Carter blieb wie angewurzelt stehen.
Nico sah ihn verwirrt an. Er verstand nicht, was so beunruhigend an einem Kaninchen sein sollte. "Ja?"
"Hör mal, ich denke wir sollten hier schleunigst abhauen", meinte Carter und war auch schon wieder auf der Straße.
"Was ist los?", fragte Nico verwirrt.
"Ein wichtiger Teil von Alice im Wunderland ist ein weißes Kaninchen. Und ich glaube nicht wirklich an Zufälle."
Jetzt war auch Nico beunruhigt. "Okay, lass uns so schnell wie möglich dieses Buch besorgen."
Dann war da der Kanaldeckel.Ein paar Sekunden lang hockte Nico einfach nur im Dunkeln und dachte darüber nach, wie unglaublich unwahrscheinlich die letzten Momente gewesen waren. Kanaldeckel waren selten offen und noch seltener ohne jegliche Absperrung rundherum, vor allem nicht in einer Megastadt wie New York. Und noch seltener passierte es, dass jemand in einen offenen Kanal fiel und noch, noch seltener waren es gleich zwei Leute. Nico sah sich um. Es war stockdunkel. Moment. Bedeutete das, jemand hatte den Deckel über ihnen geschlossen? Sah ganz so aus. Nico schauderte. Ein Licht blitzte neben ihm auf und er konnte Carters Umrisse ausmachen. Scheinbar hatte er eine Taschenlampe bei sich gehabt. "Alles okay?", fragte er.
"Alles okay."
Carter ließ den Strahl seiner Taschenlampe über das dreckige Wasser des Kanals, den glitschigen, schmalen Gang auf dem sie standen und die Decke, die beunruhigend viele Risse aufwies, schweifen. Eine Ratte zog sich quiekend aus dem Licht zurück, ansonsten hörte man nur das Plätschern des Wassers. "Na super", murmelte Carter. "Als nächstes begegnen wir noch einem Krokodil oder ein paar Ninjaschildkröten."
"Was?"
"Nicht so wichtig."
Carter kletterte die Metallleiter zurück zum Kanaldeckel und versuchte, ihn aufzudrücken. Keine Chance. Selbst, als Nico ihm zur Hilfe kam und sie mit vereinten Kräften dagegen drückten, bewegte der Deckel sich keinen Millimeter.
"Gut." Carter schien sich große Mühe zu geben, seine Stimme weniger zittrig klingen zu lassen. "Dann müssen wir wohl einen anderen Ausgang suchen. Bist du bereit?"
Nico nickte.Sie kamen nicht sonderlich schnell voran, denn der Boden war rutschig und immer wieder huschten Ratten über ihre Füße. Keiner der Kanaldeckel, die sie passierten, ließ sich aufdrücken. Sie fanden zwei Graffiti, die die Wände zierten. Das eine stellte eine Rose dar, von der rote Farbe zu tropfen schien, das andere einen Stapel Pokerkarten. Carter erklärte, dass beides in Alice im Wunderland vorkam und ihnen wurde zunehmend unwohl bei der Sache zumute. Dann streifte der Lichtstrahl der Taschenlampe über etwas eigenartiges in einiger Entfernung. Zwei Menschen. Carter schlug vor, kehrt zu machen, doch Nico wollte aus einem Grund, dem ihm selbst nicht genau bekannt war, weiter. So erreichten sie die beiden Gestalten. Schon aus einigen Metern Entfernung erkannte Nico eine der beiden. Er blieb wie angewurzelt stehen.
Neben einer Frau mit zurückgebundenen blonden Haaren in Leinengewand stand eine Frau in einem schwarzen Kleid, mit einem ebenso schwarzen Hut und dunklen Locken. Es war Maria di Angelo, Nicos Mutter. "Mama!" Das Wort rutschte über seine Lippen, bevor er überhaupt eine Sekunde darüber nachdenken konnte. Seine Mutter lächelte. "Nico!"
Carter neben ihm schien eher verwirrt. "Mom?"
Die Frau neben Maria, Ruby Kane, nickte.
Und dann war alle Zurückhaltung und Verwirrung plötzlich verschwunden und die beiden Jungen rannten auf ihre Mütter zu und warfen sich in ihre Arme, als wären sie plötzlich wieder kleine Kinder. Nico schluchzte in den weichen Stoff des Kleides seiner Mutter und saugte ihren Geruch ein, während sie ihm den Kopf streichelte und leise lachte. Carter umklammerte seine Mutter, als würde er sie nie wieder loslassen wollen. Für ein paar Sekunden war alles gut. Alle Sorgen der Welt waren verschwunden. Die warme Umarmung ihrer Mütter schien Nico und Carter alles vergessen zu lassen. Dann realisierte Nico plötzlich etwas. Er wusste gar nicht, ob das seine Mutter war. Er wusste gar nicht, wie sie roch, wie sich ihre Umarmung anfühlte, wie ihr Lachen klang. Er wusste nicht einmal sicher, wie sie aussah. Erinnerungen sind trügerisch und verschwimmen schnell. Und er hatte nur eine einzige Erinnerung an seine Mutter übrig. Aber wer war diese Frau, die ihn in ihren Armen hielt? Voller Zweifel sah er zu ihr auf. "Bist du meine Mutter?"
Doch sie antwortete nicht. Ängstlich ließ Nico sie los und stolperte ein paar Schritte zurück. Auch Carter hatte sich im Anbetracht der Tatsache, dass seine Mutter doch nichts hier zu suchen hatte von der Frau gelöst. Seine Finger tasteten nach seinem Chepesh. Auch Nico hatte seine Hand am Schwertgriff. "Wer seid ihr?", verlangte er zu wissen.
Seine Stimme war zittrig und in seinem Kopf lebte noch immer ein Funken irrer Illusion, der behauptete, dass diese Frau tatsächlich seine Mutter war. Seine tote Mutter. Der Unsinn dieser Gedanken ließ ihn fast auflachen. Die Frauen blieben ihm eine Antwort ausständig. Stattdessen drehten sie sich um und liefen davon, verschwanden in den endlosen Tunneln der Kanalisation. "Was war das?", fragte Carter.
"Keine Ahnung. Aber ich jage sie nicht", beschloss Nico kurzerhand.
"Hm, ja. Alle Monster können wir auch nicht auslöschen."
"Stimmt. Ist deine Mutter denn auch tot?"
"Ja."
"Sehr eigenartig. Nun ja, wir müssen ein Buch besorgen!"
Glücklicherweise ließ sich der nächste Kanaldeckel aufdrücken. Die beiden Jungen sollten sich noch lange fragen, was es mit dieser eigenartigen Eskapade auf sich gehabt hatte. Die Antwort steht in den Sternen.Dieses Kapitel hat einen sehr seltsamen Weg genommen und einen ganz anderen als geplant. Ich wollte einfach nicht so sehr an der Formel der anderen Kapitel festhalten und ein bisschen was seltsam-mystisches schreiben und das ist rausgekommen. Ich weiß selber nicht, was da passiert ist.
Eure
Luna_Levesque
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New York
FanfictionNew York, die Stadt, die nie schläft. Und ein besonderer Magnet für das Übernatürliche. Wieso das so ist, weiß niemand, doch eines steht fest: Eine neue Gefahr breitet sich über der Stadt aus wie ein Schatten und diesmal sind alle heldenhaften und w...