12| Die Fledermaus

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"Wartet mal - in dem Haus da drüben sind Tote."
Sadie war bewusst, dass dies kein Satz war, über den man sich freuen sollte. Aber ihr Herz machte dennoch einen kleinen Satz. Alles, nur nicht die langweiligen Straßen Staten Islands, durch die sie ihrer Meinung nach schon viel zu lange latschten. Sie hatten sich sämtliche Anreisezeit gespart, denn Nico hatte sie - recht widerwillig ("Will wird mich umbringen!") - per Schattenreise nach Staten Island gebracht. Nun drehte sie sich zu ihm um. Er blickte zu einem Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf. Es wirkte verlassen. Die Fenster waren vernagelt. Irgendwann einmal hatte es wohl im Erdgeschoss ein Restaurant oder etwas ähnliches beherbergt. Nun waren davon nur noch ausgeblichene rote Markisen und verstaubte, teils zerbrochene Schaufenster übrig. "Tote im Sinne von Leichen?", hakte Sadie nach.
"Ich weiß nicht recht." Nicos Blick hing an den Brettern vor den Fenstern. "Es fühlt sich anders an. Die Seelen sind noch da. So als wären es... Untote."
"Untote? Zombies? Cool!" Sadie grinste.
"Na ich weiß nicht", warf Walt ein.
"Ja, Untote sind eindeutig nichts Gutes", kommentierte Kowalski.
"Ich kann mich nur anschließen", nickte Nico.
"Ach, kommt schon, Jungs! Wir müssen da auf jeden Fall rein! Immerhin können wir unseren Auftrag nicht unerfüllt lassen. Und der ist, in Staten Island nach dem Rechten zu sehen."
Dagegen konnte natürlich niemand etwas sagen. "Gut, dass wir das geklärt haben."
Sie wandte sich dem Haus zu und suchte nach einem Eingang. Schnell hatte sie ein Schaufenster entdeckt, das so stark zerborsten war, dass selbst Walt hindurchpasste. Vorsichtig stieg sie hindurch. Dann drehte sie sich zu den anderen um und winkte ihnen, ihr zu folgen. Zögerlich stiegen sie nacheinander durch das Fenster. Von innen machte das Haus einen noch trostloseren Eindruck. Das Geschäftslokal, das sich über das ganze Erdgeschoss erstreckte, war fast vollkommen leer. Nur ein paar umgekippte Tische und kaputte Sessel lagen hie und da auf dem Boden. Dieser war von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt, in der Sadie deutlich die Abdrücke ihrer Springerstiefel sehen konnte. Mangels Beleuchtung und Lichteinfall von der Straße her, lag alles im Halbdunkeln. Sie durchstreifen das gesamte Erdgeschoss. Keine Spur von Menschen, geschweige denn Untoten. Nur eine Ratte lief ihnen über den Weg.

Dann gingen sie hinauf in den ersten Stock. Es war seltsamerweise schwer, eine intakte Treppe zu finden. Aus irgendeinem Grund waren sie alle abgerissen worden. Schließlich hatten sie Erfolg und stiegen die ausgetretenen, staubigen Stufen hinauf. Im ersten Stock war es fast vollkommen dunkel. Nur durch ein paar Ritzen zwischen den Brettern, die die Fenster verrammelten, fielen schmale Lichtstreifen herein, in denen der Staub tanzte. Wortlos zog Walt eine Schlüsselanhängertaschenlampe hervor, um ihnen wenigstens etwas mehr Licht zu spenden. Dieser Teil des Hauses hatte wohl einst aus Wohnungen bestanden. Sie bahnten sich einen Weg über kaputte Möbel, zurückgelassene Kartons und allerlei Krimskrams auf dem Boden. Noch immer keine Spur von Menschen. "Habt ihr das gehört?", murmelte da plötzlich Walt. Sofort blieben sie alle stehen und lauschten. Sadie hörte ein leises Geräusch, das sich anhörte wie das Flattern einer Fledermaus. Das war doch lächerlich. Fledermäuse in einem verlassenen Haus mitten in New York? Plötzlich spürte sie etwas über ihre Stiefel huschen. Sie sah gerade noch rechtzeitig hin, um zu erkennen, dass es wieder eine Ratte war. "Das ist unheimlich", hauchte sie. Und in der nächsten Sekunde drückte sie jemand gegen die Wand.

Sadie keuchte und versuchte sich aus dem eisernen Griff der Person zu lösen, die sie mit der Wange gegen die Wand presste und ihre Handgelenke festhielt. "Walt?", rief sie verzweifelt.
Die Taschenlampe war ausgegangen und sie konnte nichts mehr erkennen.
"Sadie", hörte sie Walt nicht weit von sich keuchen. Wenn sie die Geräusche richtig beurteilte, rang er mit jemandem. Plötzlich ein wütender Aufschrei, eindeutig nicht von Walt, ein dumpfer Aufprall. Sie schätzte, jemand anders hätte Nico zu Boden gebracht. Kowalski konnte sie nicht hören. Verzweifelt versuchte Sadie, sich zu wehren, doch sie hatte nicht genug Bewegungsfreiheit. Plötzlich ließ ein grelles Licht sie blinzeln. Jemand hatte wohl eine Lampe angeschaltet. Nun konnte Sadie zumindest eingeschränkt erkennen, was geschehen war. Nico lag nicht weit von ihr von ihr auf dem Boden und versuchte keuchend, die große muskulöse Frau von sich zu schieben, die ihn festhielt. Ein Mann rang mit Kowalski in seinen Armen. Er hielt ihm zwar den Schnabel zu, doch der Pinguin wehrte sich heftig. Walt befand sich außerhalb ihres Gesichtsfeldes, doch es hörte sich so an, als hätte er gerade einen Ringkampf mit jemanden. "Wer sind Sie?", presste Sadie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Das Gesicht einer weiteren Frau tauchte vor ihr auf. Sadie erkannte, dass sie unnatürlich blass war. Und da erkannte sie, dass dieses Merkmal die gesamte Gruppe auszeichnete: seltsam totenbleiche Haut. Ihr schauderte. Trotzdem sah sie der Frau direkt in die Augen. Sie war ziemlich groß und schlank, hatte weiche Gesichtszüge und braune Augen mit langen Wimpern. Ihre braunen Locken trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. "Oh, du süße kleine Irdische", flötete sie.
Das erste, das Sadie auffiel war ihr starker Akzent. Sie konnte ihn nicht genau einordnen, tippte aber auf Spanisch oder etwas ähnliches. Das zweite, das ihr auffiel war das Wort "Irdische". Sie konnte sich absolut nichts darunter vorstellen, doch in ihrem Kopf gingen die Alarmglocken los. Diese ganze Situation war eindeutig nicht normal. "Armes Ding, so gegen die Wand gequetscht. Charles, dreh sie um."
Charles war wohl derjenige, der sie festhielt. Er tat, wie ihm gehießen. Nun wurde sie mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt, so dass sie sich noch immer nicht rühren konnte. Aber wenigstens konnte sie jetzt alles sehen. Walt hatte seinen Ringkampf mittlerweile verloren. Er keuchte. Ein Mann hielt seine Arme auf seinem Rücken. Sadie bemerkte, dass eines von Walts Augen angeschwollen war und seine Nase blutete. "Walt", rief sie wieder verzweifelt und versuchte, sich von Charles loszureißen, jedoch erfolglos. Sie war sich schmerzlich bewusst, dass sie es gewesen war, die sie in diese Situation gebracht hatte. Und nun schien alles aussichtslos. Sie hatte keine Chance, an ihren Zauberstab und ihr Zaubermesser zu kommen. Walt war zu fertig, um zu kämpfen. Nico lag auf dem Bauch und atmete pfeifend unter der Last der Frau, die ihn auf den Boden drückte. Nie würde er sein Schwert erreichen, geschweige denn, es schwingen können. Kowalski hatte aufgehört, sich zu wehren und hing schlaff in den Armen des Mannes.
"Was wollen Sie? Wir haben Ihnen nichts getan", sprach Sadie die Frau, die eindeutig die Anführerin war, direkt an.
"Ihr seid in unser Territorium eingedrungen. Wir dürfen jetzt mit euch machen was wir wollen."
Gruseligerweise leckte sie sich dabei genussvoll die Lippen. Sie grinste den anderen zu und offenbarte dabei lange, spitze Fangzähne. Sadies Herz setzte einen Schlag aus. "Endlich wieder Menschenblut", verkündete die Frau. Die anderen brachen in freudigen Jubel aus.
"Was... seid... ihr?", keuchte Nico.
"Oh, ist das nicht offensichtlich, Süßer? Wir sind Vampire. Und ihr unsere nächste Mahlzeit."
"Rosa!", rief da plötzlich jemand. Die Frau wirbelte herum. Ein Junge war scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht. Er wirkte kaum älter als Sadie, hatte schwarze Locken, große dunkle Augen und trug ein weißes Hemd, bei dem sie obersten Knöpfe aufgeknöpft waren. "Por favor, Rosa. Hable conmigo. No tienes que hacer eso." (In kursiv folgen die Übersetzungen des Spanischen: Bitte, Rosa. Rede mit mir. Du musst das nicht tun.)
Die Frau lachte hell auf und antwortete: "Ah, sí, claro. El angél Raphael me dice lo que debo hacer. Tú me has dicho bastante en esta vida. Hago lo que quiero hacer." (Ah, ja, klar. Der Engel Raphael sagt mir, was ich tun soll. Du hast mir in diesem Leben schon genug gesagt. Ich tue das, was ich tun will.)
Angestrengt versuchte Sadie, zu verstehen, was die beiden sagten.
"Pero estás infrigiendo leyes, Rosa. ¡No puedes matar estos niños!" (Aber du brichst Gesetze, Rosa. Du kannst diese Kinder nicht töten!)
"¿Has vístolos? ¡Son locos! ¡Tienen un penguino! Nadie va a extrañarlos." (Hast du sie angeschaut? Das sind Verrückte! Sie haben einen Pinguin! Niemand wird sie vermissen.)
eres loca, Rosa! Por última vez, ¡déjate de disparates!" (Du bist verrückt, Rosa! Zum letzten Mal, hör mit dem Unsinn auf!)
"Eres un cobarde, Raphael. ¿Nunca ansias el sabor del sangre de un hombre?" (Du bist ein Feigling, Raphael. Sehnst du dich nie nach dem Geschmack des Blutes eines Menschen?)
"Me das asco, Rosa." (Du ekelst mich an, Rosa.)
"¡Vaya, que pena! ¡Piérdete, Raphael! No hay lugar para miedicas por aquí." (Ojemine! Hau ab, Raphael! Hier ist kein Platz für Jammerlappen.)
"Lo siento, cariño." (Es tut mir leid, Liebes.)
Der Junge, Raphael, zog etwas aus seiner Hosentasche und schleuderte es quer durch den Raum. Einen Dolch. Er traf Rosa direkt ins Herz und sie sank mit einem erstickten Röcheln zu Boden. Dann zerfiel sie zu Staub. "Los! Los! Haut ab! Lasst euch nur ja nie wieder blicken!", brüllte Raphael die anderen Vampire an. Sein Englisch war überraschenderweise fast akzentfrei. Charles ließ Sadie los, die Frau kletterte von Nico herunter, die beiden Männer ließen von Walt Kowalski ab und sie rannten hastig aus dem Raum. Nun waren sie allein. Raphael, ihr Retter in der Not, zitterte. Verstohlen wischte er sich über die Augen. Sadie schenkte ihm erstmal keine Aufmerksamkeit und stürzte zu Walt. Sie umarmte ihn fest und nahm dann Gesicht zwischen die Hände, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. "Mir geht es gut, Sadie, mach dir keine Sorgen", murmelte er, während es ihm eindeutig nicht gut ging.
Sie holte wortlos ein Taschentuch hervor und wischte ihm die blutige Nase ab. Dann küsste sie ihn einmal heftig. "Es tut mir so leid."
"Ist ja nicht deine Schuld", sagte er und legte ihr den Finger auf den Mund, als sie ihm widersprechen wollte. Sie wandte sich wieder zu den anderen um. Kowalski schien in guter Verfassung zu sein. Nico rieb sich die Rippen und seine Wange zierte ein blutiger Schnitt. Er fixierte Raphael misstrauisch, der noch immer zitterte und unterdrückt schluchzte. "Du hattest was mit ihr, oder?", bohrte Nico nach.
Überrascht sah Raphael ihn an. "Wie kommst du auf die Idee?"
"Die Art wie ihr miteinander geredet habt - du hast sie "cariño" genannt - jetzt weinst du", er zuckte mit den Schultern.
Raphael lachte auf. "Nein, eigentlich war es vielmehr das Gegenteil. Rosa war für mich wie eine Tochter. Man sieht es mir nicht an, aber ich bin - war - älter als sie", er stutzte. "Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt, wie unhöflich. Ich bin Raphael Santiago, Oberhaupt des New Yorker Vampirclans. Und bevor ihr fragt, Rosa war eine Abtrünnige. Eigentlich trinken wir kein Menschenblut. Gut. Also, eurer Bewaffnung zufolge seid ihr keine stinknormalen Sterblichen, richtig? Von dem Pinguin mal abgesehen."
Sie schüttelten die Köpfe. Er nickte nachdenklich. "Wisst ihr was? Ich werde euch mitnehmen, dann können wir die ganze Sache in Ruhe klären."
Wie auf Kommando öffnete sich vor ihm ein Fenster in der Luft. "Folgt mir. Ich werde euch einen guten Freund von mir vorstellen. Magnus Bane."

Wahnsinn. Dieses Kapitel ist fast doppelt so lang wie die üblichen. Aber ich hatte einfach kein Herz dazu, etwas wegzustreichen. Ich muss sagen, es hat viel Spaß gemacht, das hier zu schreiben. Die erste Version hatte ein paar Logikfehler, aber mit der hier bin ich schwer zufrieden. Ich hoffe, der spanische Teil war nicht mühsam oder so, aber ich wollte das unbedingt einbauen.
Eure
Luna_Levesque

New YorkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt