1 ~ Zusammentreffen bei Nacht

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Die Nacht war nahezu perfekt.
Ein sternenklarer Himmel, das würzige Aroma des Waldes in der lauen Sommernachtsluft und wenn man ganz still war, konnte man die Grillen zirpen hören. Der Mond stand beinah voll am dunklen Firmament und tauchte alles in ein kühles silbernes Licht. Bis auf die Geräusche der Nacht war nichts zu hören. Kein Straßenlärm, kein unverständliches Stimmengewirr, kein penetranter Klingelton, kein landendes Flugzeug. Einfach nichts. Nur Nacht, nur vollkommene Natur.

Vorsichtig stupste Nora ihre Enkelin am Arm. Diese hatte noch immer die Augen geschlossen und den Kopf an die Nackenstütze ihres Wagens gelehnt. Hätte Nora es nicht besser gewusst, sie hätte gesagt, dass sie schläft. Aber sie lauschte. Lauschte durch die weit geöffneten Fenster hinaus in die dunkle Nacht. Aber sie konnten nicht ewig hier im Auto sitzen bleiben.

Behutsam legte Nora ihre Hand auf den Oberschenkel ihrer Enkelin und sagte leise: „Luna, wir sollten langsam gehen. Die anderen warten sicher schon auf uns." Mit einem missmutigen Grummeln tief aus Talunas Kehle öffnete diese ein Auge und sah die alte Frau neben sich an. „Ich weiß." Kritisch sah Nora ihre Enkelin an. „Ich werde nicht den ganzen Abend hier verbringen. Ich habe mich schließlich nicht umsonst in diesen Fetzen gekleidet." Mit unglücklichem Gesicht deutete Nora auf das cremefarbene Tuch, das sie im Nacken geknotet hatte und dass ihr wie ein weites Kleid um den etwas hageren Körper lag. Für ihr Alter war sie noch sehr aktiv und gesund – schließlich konnte das nicht jeder von sich behaupten, der fünfundsechzig war. Aber Nora war ja auch nicht wie andere.

Seufzend zog Taluna ihren Schlüssel aus der Zündung und schnappte sich ihre Handtasche, die sie hinter dem Fahrersitz deponiert hatte. „Ist schon gut. Gehen wir." Während sie ausstiegen, fluchte Nora ausgelassen über das Tuch, das ihren Körper umgab. „Stell dich nicht an Nonna, ich bin auch nicht besser dran als du", erwiderte Taluna auf die Triade ihrer Großmutter und deutete auf sich. Auch ihr Körper war mit dem im Nacken gebundenen langen Tuch aus cremefarbenem Stoff umhüllt. Das schlichte Gewebe reichte ihr bis knapp über die Knie. An ihren Füßen trug sie – wie Nora – aus Bast geflochtene Flip-Flops.

„Ach, es ist doch wahr. Wenn es eine andere Möglichkeit geben würde, würde keiner mehr mit diesen überdimensionalen Badetüchern herumlaufen", schimpfte Nora und ging um den Wagen herum zu Taluna. Diese lächelte nur milde und gab ihrer Oma einen Kuss auf die leicht faltige Wange. „Ja, ich weiß. Vielleicht entwirft mal jemand was Neues, das denselben Zweck erfüllt."

Gemeinsam gingen sie über den schmalen, mit feinem Schotter bedeckten Weg zwischen den Parkplätzen zu einem großen Gebäude, das gleich am Waldrand stand. Eine Seite des flachen, aber ausladenden Bauwerks war vollkommen verglast und die beiden Frauen konnten die vielen Leute sehen, die sich in der großen Halle befanden. In kleinen Grüppchen standen sie zusammen, lachten und redeten, mit Getränken in den Händen.

„Kathlen ist sicher schon da", bemerkte Nora, als sie die große Eingangstür erreichten. „Ja, sie ist immer so furchtbar pünktlich. Ich bin gespannt, ob sie Gabi auch mitgebracht hat." Beide nickten dem Mann, der ihnen die Tür aufhielt, zu und betraten den kleinen Vorraum. Nora machte eine wegwerfende Handbewegung, als sie zusammen mit Taluna an der Garderobe angekommen war. „Ich glaube nicht, dass sich das Mädchen dazu durchringen konnte. Die meisten anderen fühlen sich in unserer Gesellschaft noch immer etwas unwohl." Taluna nickte, während sie ihre Handtasche an einen der Hacken hängte. „Ich weiß. Trotzdem weiß sie hoffentlich, dass wir sie gerne einladen."

Nora lächelte ihre Enkelin an und gemeinsam gingen sie auf die geöffneten Türen der großen Halle zu. Alle Frauen trugen – ebenso wie Taluna und Nora – die großen Tücher als Kleid geknotet, während die Männer sich die naturweißen Laken als eine Art Lendenschurz um die Hüften geschlungen hatten. Zwischen den Erwachsenen rannten spielende Kinder in jedem Alter umher. Die Gruppen der Jugendlichen lungerten am anderen Ende der Halle.

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